Wenn das Schicksal scheinbar gar kein Mitleid hat

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elke seifried Avatar

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Das wirkliche Leben erzählt von einem solchen, das niemand gezwungen sein sollte, es leben zu müssen. Ein namenloses Mädchen und ihr vier Jahre jüngerer Bruder wachsen ohne Elternliebe auf, die einzige Liebe, die in der Familie herrscht, ist ihre zu ihrem Bruder Gilles, und für diese gilt, „Meine Liebe zu ihm war die reinste Form der Liebe, die es auf der Welt gibt. Wie Mutterliebe. Eine Liebe, die keine Gegenleistung erwartet und durch nichts zerstört werden kann. Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sah man seinen Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk.“ Der jähzornige Vater greift immer wieder zu Gewalt, „Wenn das Gebrüll dazu nicht reichte, nahm mein Vater noch die Hände zu Hilfe. Bis auch das letzte bisschen Wut aus ihm heraus war. Am Ende fand sich meine Mutter immer am Boden wieder.“, die Mutter gleicht aus Angst vor ihrem Ehemann einer Amöbe, unfähig ihren beiden Kindern tröstend zur Seite zu stehen.

Als Leser findet man Einlass in diese Familie, erfährt von den Gewaltausbrüchen und wird dann Zeuge, wie sich vor den Augen des Mädchens und ihres Bruders ein schrecklicher, brutaler Unfall ereignet. Beide erhalten wie immer keine Unterstützung und keinen Trost von ihren Eltern, das Thema wird totgeschwiegen, Sorgen ignoriert oder einfach nicht zur Kenntnis genommen. „Meine Eltern bemerkten nichts davon. Mein Vater war zu sehr damit beschäftigt, meiner Mutter das Tagesgeschehen im Fernsehen zu erklären, und meine Mutter war zu sehr damit beschäftigt Angst vor meinem Vater zu haben.“. Nach dem Unfall verschließt sich Gilles immer mehr und auch die Hoffnung als bei ihm dann endlich Tränen fließen können, „Dann brach er in Schluchzen aus, das Entsetzen schüttelte seinen kleinen Spatzenkörper, und als wäre ein Abszess aufgeplatzt, der sich die Zeit genommen hatte zu reifen, quoll das Grauen aus ihm heraus, strömte über seien Wangen. Ich hielt es für ein gutes Zeichen. Ich dachte, dass etwas in ihm wieder in Gang gesetzt worden war, dass seine Lebensmaschine wieder anwarf.“, war alles andere als das. Während das Mädchen verzweifelt versucht die Vergangenheit rückgängig zu machen, ihrer Leben an einem Punkt vor dem schrecklichen Unfall in eine andere Bahn zu lenken und so ihren Bruder und seine Liebe wieder zurück zu erlangen, wird dieser ihr immer mehr fremd. Wo entwickelt er sich hin, kann sie ihn retten? Das wird nicht verraten.

Die Autorin lässt ihren Roman rückblickend aus der Perspektive eines, zu Beginn zehnjährigen, Mädchens aus der Ich –Perspektive erzählen. Trotz des eher nüchternen, betrachtenden und distanzierten Stils ist man der Namenlosen so sehr nahe und kann sich sehr gut in ihre Gefühlswelt hineindenken. Adeline Dieudonné hat mich emotional mit ihrer Geschichte, die von einem Leben erzählt, das keiner führen müssen sollte, total gefesselt. Oft habe ich geschockt gelesen, wie kann eine Kinderseele so etwas nur aushalten? Ich habe stellenweise gebibbert, war mehr froh, wenn der Vater durch den Gongschlag der Nachrichten von ihr abgelenkt wird, wenn sie in letzter Sekunde doch noch die richtige Entscheidung trifft, habe mit ihr bei einer Hertzjagd im Wald regelrecht gezittert, konnte ihre Enttäuschung so sehr spüren, als ihr Monica doch nicht helfen kann, hatte regelrecht Angst als es hieß, „…und uns ankündigte, dass er Riesenlust hatte, zuzuschlagen. Da begriff ich, dass ich zur Beute geworden war.“ Ich könnte nahezu endlos weiter aufzählen, so viele aufwühlend, bewegend und schockierende Szenen sind in diesem Roman zu finden. Allzu zart besaitet darf man nicht sein, wenn man lesen muss, dass das Mädchen nicht mehr unterscheiden kann, ob es sich um das Rot des blutigen Steaks oder das Blut der geprügelten Mutter handelt, das da den Küchentisch nach einer Prügelattacke färbt oder wenn von Tierverstümmelungen wie z.B. „Anstelle der Augen starrten mir zwei blutige Höhlen entgegen. Die Ohren waren abgerissen und lagen ein Stück entfernt im Dreck. Die Kehle war so tief durchschnitten, dass der Kopf nur noch durch die Wirbelsäule mit dem Rumpf verbunden war. Und der Leib war an so vielen Stellen aufgeschlitzt, dass kein Zentimeter Fell blieb, das nicht blutverschmiert war.“, die Rede ist. Allerdings hat das Mädchen die Hölle durchgemacht und das kann man wohl einfach nicht in harmlose Worte fassen, würde meiner Meinung nach auch nicht zum restlichen Stil passen.

Die Ich-Erzählerin hat auch ohne Namen sofort mein Mitgefühl und Mitleid auf sich gezogen. Wie gerne hätte ich das Mädchen doch einfach nur tröstend in die Arme genommen, wie sehr hat sie mir leid getan, weil sie sich doch nur ein bisschen Liebe sehnt und nach jeder Art von Aufmerksamkeit nahezu lechzt. Ich ziehe meinen Hut vor ihr, weil sie sich nicht unterkriegen lässt, die Hoffnung ihren Bruder retten zu können nicht aufgibt und sich so ins Lernen flüchtet, um das zu können und etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie ist wirklich grandios dargestellt, ebenso wie die beängstigende Entwicklung ihres Bruders, „seine Maschine zur Herstellung von Gefühlen war kaputt.“, mehr darf man da aber gar nicht verraten. Die leblose Mutter hätte ich zu Beginn am liebsten immer wieder geschüttelt, aber das hat sich nach und nach mehr zu Mitleid entwickelt. „Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern.“, ein solcher ist der Vater mit Sicherheit, aber mehr nur als das er ist ein Scheusal, das Gefallen daran findet, sich im Elend und in den Schmerzen anderer weiden zu können. Selten habe ich eine solche Abscheu empfunden.

Ich bin normalerweise kein Leser, der nach Büchern auf der Bestsellerliste Ausschau hält, da habe ich im Gegenteil schon öfter einmal eine Enttäuschung erlebt. Aber dieses Debüt, das sich monatelang in den französischen Top-Ten halten konnte, hat mich gefesselt von Anfang bis Ende, auch wenn mich sicher einzelne Szenen richtig abgestoßen haben. Eindrücklicher hätte die Autorin nicht von einem wirklichen Leben für das gilt, „Denn das Leben war nun mal eine Ladung Fruchtpüree in einem Mixer und man musste aufpassen, in dem Strudel nicht von den Klingen nach unten gezogen und zerkleinert zu werden.“, erzählen können.