Ein großartiger Roman voller schräger Gestalten

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Unausgesprochen hat Wes seinem Vater die Schuld daran gegeben, dass seine Mutter während des Hurricans Kathrina (2005) ertrunken ist. Wäre der Vater nicht so starrsinnig gewesen, dann hätten die Trenchs sich wie alle anderen Bewohner des Sumpfgebiets Barataria Bay südlich von New Orleans rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Das Bajou ist eine Landschaft, in der sich Inseln, Sandbänke und Sümpfe ständig verändern. Ursprünglich durch Thomas Jefferson von Napoleon für ein paar Cents pro Hektar gekauft, entwickelte sich die Region zum Fluchtziel geflohener Sklaven, zum Revier der Piraten, Schmuggler, Shrimpsfischer, Schatzsucher und weiterer durchgeknallter Typen. Durch den Hurrican und die durch den BP-Konzern verschuldete Ölpest im Golf von Mexiko verlieren die kleinen Shrimpsfischer, die Restaurants und der Tourismus ihre Lebensgrundlage. Wes Trench trifft der wirtschaftliche Zusammenbruch besonders empfindlich, weil er mit 17 gerade an seinem eigenen Boot baut und dringend Abstand von seinem schwierigen Vater sucht. Wenn der Verkaufspreis des Fangs unter den Spritkosten liegt, ist das genau der falsche Moment, um sich mit dem Vater zu überwerfen und Arbeit zu suchen. Wes kommt zunächst bei Lindquist unter, dem alten Hagestolz, dem gerade jemand aus purer Bosheit seine teure Armprothese gestohlen hat. Als Kapitän und Fischer mit einem einfachen Piratenhaken statt eines Arms hat Lindquist allein kaum Überlebenschancen.

Neben Vater und Sohn Trench und dem alten Lindquist sind in den Sümpfen einige weit schrägere Vögel unterwegs. Ein Zwillingspaar ist im gesamten Bayou dafür bekannt, auf einer der Inseln Marihuana feinster Qualität anzubauen, der Dachdecker Cosgrove schlägt sich als kleiner Gauner durch und Brady Grimes ist von BP angeheuert worden, um die Einwohner beim Abtreten ihrer Schadenersatzansprüche über den Tisch zu ziehen. Grimes stammt selbst aus dem Bayou, nur deshalb hat BP ihn überhaupt eingestellt, und soll seiner eigenen Mutter das unmoralische Angebot einer geringen Abfindung vorlegen. Erst die Begegnung mit seiner Mutter macht Grimes klar, dass der gesamte Sumpf verseucht und es nur eine Frage der Zeit ist, wann die Bewohner an umweltbedingten Krankheiten sterben werden. Eine Reihe von Personen in wechselnder Team-Zusammensetzung gehen im Sumpf und auf dem Wasser ihren Geschäften nach und man kann sich leicht vorstellen, dass es in einem Setting mit Alligatoren, Schlangen, wertvollen Schätzen und begehrten Drogen zum komischen und für einige auch lebensbedrohlichen Showdown kommen kann. Wenn nachts in einem Sumpf mehrere durchgeknallte Parteien aufeinandertreffen, kann das wohl nur grandios schiefgehen. Dass Lindquist dabei mit seiner Armprothese in einer vergleichsweise miesen Position sein würde, wurde mir erst allmählich klar.

Tom Cooper hat für seinen ersten Roman das beeindruckende Setting einer bedrohten Landschaft und ihrer Bewohner geschaffen. Das damit perfekt harmonierende Buchcover der deutschen Ausgabe wirkt wie ein Stich aus Zeiten von Humboldts. Da es um mögliche Wasserleichen und befürchtete Alligator-Angriffe geht, sollten Leser des Buches nicht zu zart besaitet sein. Für die vielen beteiligten Personen, deren Wege sich hier kreuzen, deren Vater-Sohn, Vater-Tochter, Kapitän-Matrose, Jäger-Gejagter-Beziehungen habe ich mir eine Personenliste notiert, neben das Buch gelegt und die Lektüre damit sehr genossen. Die Personenzeichnung der dreisten bis verbohrten Gestalten wirkt sehr gradlinig; zusammengehalten wird das Ganze durch eine Rahmenhandlung aus Wes Schicksal und seiner Sicht der Ereignisse. Den zurückhaltenden Siebzehnjährigen mochte ich sofort. „Das zerstörte Leben des Wes Trench“ hat mich begeistert und ich hätte einem so großartigen Buch in einigen Details ein aufmerksameres Lektorat gewünscht.

Zitat
„Gegen Mitte September hatten Cosgrove und Hanson eine regelrechte Routine beim Auskundschaften entwickelt. Jede Nacht nach der Schicht beim Vogelschutz fuhren sie in die Barataria Bay hinaus, erkundeten den Inselarchipel und wanderten im schwachen Schein ihrer Laterne die Ufer ab wie Wiedergänger einer Apokalypse. Die Inselchen und Barrieren waren ungezählt, die meisten davon kaum mehr als marschige Flecken voller Schilf. Die Koordinaten, die Hanson von dem GPS hatte, führten nur zu einer Insel mit einer toten Weide, deren Äste voller schlafender Reiher war[en]. Kein Marihuana. Aber sie nutzten die Insel als Bezugspunkt. Wenn es die Insel […] überhaupt gab, dann musste sie wohl hier in der Nähe sein.“ (Seite 200)