Eine vertane Chance

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gaia Avatar

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Dieser als Roman getarnter Bericht über eine außergewöhnliche Familiengeschichte lässt sich nur schwer einordnen. Thematisch erzählt die Autorin die wahre Geschichte ihrer eigenen Großelterngeneration, welche als Heidenmissionare während und zwischen den beiden Weltkriegen in Neuguinea und Indonesien tätig gewesen sind. Das Thema des deutschen Kolonialismus ist definitiv unterrepräsentiert, wenn es um die Aufarbeitung deutscher Geschichte geht. Deshalb ist dieses Buch schon einmal grundsätzlich interessant. Ob dieses Buch nun aber auf literarischem Wege dazu beiträgt, mehr Licht ins Dunkle zu bringen, ist fraglich.

Dass sich Christen aus verschiedenen Ländern aufmachten, um "die Wilden" zu christianisieren und "zivilisieren", ist bekannt. Auch deren grundlegende Annahme bei dem einen handle es sich "göttliche Macht" und dem anderen um "Aberglauben" entspricht den Vorstellungen der Kolonialisierer. Der westliche Weg zu leben, sei richtig, der Weg der Urahnen der entdeckten Völker sei falsch. So schreibt Döbler: "Wie die meisten Missionare hatte er kaum einen Begriff von den Sitten, gegen die sie andauernd verstießen. Sie hielten sich an die göttlichen Gebote, da konnte nichts falsch sein." Für mich ein neuer Aspekt an dieser Stelle ist, dass es sich hierbei um protestantische und nicht katholische Missionare handelt. Aber wie bringt die Autorin die Thematik rüber? Sie schreibt in kurzen Passagen als Ich-Erzählerin über das Verhältnis zu ihrer Großmutter als diese schon im hohen Alter war. Und sie schreibt über weite Strecken in Form eines Berichtes, welcher in 1913 beginnt und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg endet. Dabei ordnen vor allem die erstgenannten Passagen das Berichtete historisch-gesellschaftlich ein. Das macht Döbler gut. Sie reproduziert eben nicht einfach nur kolonial-rassistische Ansichten. So schreibt sie klar: "Ich hätte meiner Großmutter erklären können, dass die Verbreitung ihres Gottes für die, die sie ihre Papua nannte, koloniale Unterdrückung bedeutete. Sie hatte dabei geholfen, den Neuguineern den Schmerz der Unterlegenheit zuzufügen, ihnen ihre Würde zu nehmen und ihr Land und ihre Kultur. Das war Beihilfe zu einem weitreichendem Verbrechen, das nur zu verdammen war, und ich verdammte es, aus vollem Herzen." Hier geht es also definitiv nicht um rein nostalgische Abenteuerromantik. Sehr gut. Warum aber ist für mich das Buch trotzdem nur mittelmäßig einzuschätzen? Weil es literarisch einfach nicht überzeugen kann.

Ich finde es schwierig, dass das Buch nur online, aber nicht im Klappentext oder anderorts als das definiert wird, was es ist. Nämlich der auf einer wahren Geschichte beruhende Familienbericht von der Familie der Autorin. Kein rein erfundenes prosaisches Werk. Ja, die Sinnhaftigkeit dieser Einordnung wird wild diskutiert. Hier hätte diese Einordnung meines Erachtens jedoch dem Buch gut getan. Vielleicht sogar durch ein kurzes Vor- oder Nachwort. Des Weiteren wäre eine starke Verdichtung der Erzählung notwendig gewesen. Die Autorin beschreibt vieles zu weitschweifig und ausufernd, sodass der Roman sich auf 480 Seiten unglaublich in die Länge zieht. Für diesen Umfang hat mir das Buch dann doch letztendlich zu wenig Aussage. Das Ganze dann auch noch in Berichtform geschrieben und literarisch wenig ansprechnd, macht die Lektüre zäh und mitunter langweilig. Auch konnten mich die Beschreibungen atmosphärisch nicht auf die Inselgruppe entführen. Wenn ich hier vergleichsweise an "Das Volk der Bäume" von Hanya Yanagihara denke, kommt Döbler nicht ansatzweise an die fantasieanregende Kraft Yanagiharas heran. Auch wird der Lesefluss durch den Verzicht auf jegliche Anführungszeichen bei trotzdem vorhandener direkter Rede massiv beeinträchtigt. Stilistisch ein No-Go. Der aus meiner Sicht einzige stilistische Coup des Buches ist das Ersetzen von klassischerweise sonst bei biografischen Berichten genutzten Fotos aus dem Familienalbum durch Textpassagen, welche eingerückt in einem extra Textfeld stehen und welche genauestens das Abgebildete auf ebendiesen Fotos beschreiben. Durch des Textfeld wirkt das Ganze wie in Schrift gegossene Abbildungen. Abbildungen, die man sonst nur mal kurz anschauen würde und dann überblättert, bekommen hier eine große beobachterische Tiefe. Leider war dies jedoch der einzige, herausragende literarische Pluspunkt, den ich finden konnte.

Letztendlich komme ich zu dem Resümee, dass mir dieses Buch, wäre es ein erfundener literarischer Roman gewesen, durchaus gefallen hätte. Die gewählte Berichtform dann Stilmittel statt die nacheliegendste Schriftformentscheidung. Da es sich jedoch unter dem Strich um einen recht trocken runtergeschriebenen Bericht handelt, der nun einmal nicht erfunden, sondern nacherzählt ist, habe ich mich für nur zwei Sterne entschieden. Selten ist mir eine Entscheidung zwischen zwei und drei Sternen so schwer gefallen. Yanagihara hat einfach bewiesen, dass so ein Vorhaben literarisch viel intensiver umsetzbar ist. Schade, eine vertane Chance.