Gut 30 Jahre Weltgeschichte aus ungewohnter Perspektive

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waschbaerprinzessin Avatar

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Bevor ich Katharina Döblers Roman „Dein ist das Reich“ in den Händen hielt, war mir nicht einmal bewusst, dass ein Teil Neuguineas einmal eine deutsche Kolonie war. Umso wichtiger finde ich es, dass die Autorin einen Ausschnitt aus der Geschichte aufgreift, über den zumindest ich so gut wie nichts in der Schule gelernt habe, und ihn zum Gegenstand einer ebenso spannenden wie ergreifenden Familiengeschichte macht.

Alle vier Großeltern der Ich-Erzählerin verbrachten einen Teil ihres Lebens als Missionare in Neuguinea. Als junge Frau rebelliert sie gegen alles, wofür ihre Vorfahren standen: Gegen die christliche Kaffeerunde am Sonntagnachmittag, die nostalgische Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit und die Verklärung des Kolonialismus. Erst später beginnt sie, die Familiengeschichten aus Erzählungen, Fundstücken, Tagebüchern, Zeitungsartikeln und Fotografien zusammenzusetzen und aufzuschreiben. Zwar bekommt man die Fotos nicht zu sehen, doch die detaillierten Bildbeschreibungen lassen sie beim Lesen im Kopf entstehen, als blättere man nicht durch einen Roman, sondern durch ein Familienalbum. Die Perspektive wechselt immer wieder zwischen den einzelnen Großelternteilen, die alle zu einem anderen Zeitpunkt ihre große Reise angetreten und doch zueinander gefunden haben, sowie den Erinnerungen der Erzählerin. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, den Überblick über die Verhältnisse der kinderreichen Familien zu behalten und war dankbar für den im Buch enthaltenen Stammbaum. Die vorne abgedruckte Karte von Neuguinea hat zusätzlich dabei geholfen, die örtlichen Gegebenheiten und Distanzen besser nachvollziehen zu können.

Was ich besonders interessant fand, war, dass Döbler die Menschen mit ihren Ansichten, Motivationen und Empfindungen in den Fokus rückt. Warum entschließt sich ein fränkischer Bauernsohn, seine Heimat hinter sich zu lassen und tausende Kilometer entfernt eine Plantage im Urwald zu bewirtschaften? Wie fühlt es sich an, sich auf den Weg in ein fremdes Land zu einem Ehemann zu machen, den man kaum kennt und vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hat? Was macht es mit einem, nach Jahrzehnten in eine Heimat zurückzukehren, die man nicht mehr wiedererkennt? Mit den beiden Großmüttern Marie und Nette verfügt das Buch über zwei starke weibliche Hauptfiguren mit großen Plänen, deren Verwirklichung nicht selten an der Gesellschaft und den Wirren der Weltgeschichte scheitert. Alle vier Hauptfiguren sind unglaublich interessante Charaktere und auch wenn man viele ihrer Ansichten aus heutiger Perspektive beim besten Willen nicht gutheißen kann, gelingt es Döbler, sie nachvollziehbar zu machen. Ich hatte beim Lesen teilweise großen Respekt davor, was sie für ihre (wenn auch zweifelhaften) Überzeugungen auf sich genommen und durchgestanden haben. Dass man sich so gut in die handelnden Personen hineinversetzen kann, birgt jedoch auch die Gefahr, dass man die nötige Distanz zu ihren Sichtweisen und damit auch den unfassbar wichtigen kritischen Blick auf den Kolonialismus verliert. Beim Lesen betrachten wir die in Neuguinea lebenden Menschen mit den Augen der Missionare. Gleichzeitig dürfen wir aber nie außer Acht lassen, wie rassistisch deren Einstellung den Indigenen gegenüber und wie grausam ihr Umgang mit ihnen war. Hier habe ich mir stellenweise mehr in die Gegenwart einordnende Kommentare der Erzählerin gewünscht.

Obwohl das Buch mit seinen fast 500 Seiten schon eine ordentliche Länge hat, habe ich mir noch mehr gewünscht. Vor allem die Perspektive der Kinder, die ihre ersten Lebensjahre in den Kolonien verbracht haben und dann nach Deutschland kamen, wo sie teilweise jahrelang von ihren Eltern getrennt lebten, hätte ich gerne näher kennengelernt.

Katharina Döbler betrachtet in „Dein ist das Reich“ die Geschichte von 1913 bis 1948 aus einem ungewohnten Blickwinkel. Wer gerne historische Familiengeschichten liest oder sich für bewegende Lebensgeschichten interessiert, wird mit diesem spannenden Roman sicher viel Spaß haben. Wer auf 500 Seiten knallharte Kritik am Kolonialismus hofft, wird vermutlich enttäuscht sein. Ich kann mir die Handlung auf jeden Fall bestens als mehrteiligen Fernsehfilm vorstellen.