Spannende Auseinandersetzung mit einer problematischen Familiengeschichte

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Katharina Döblers Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem schwierigen Erbe, welches ihre Familie ihr als Nachfahrin missionarischer Kolonialisten mit auf den Weg gegeben hat. Nacheinander führt die Erzählerin ihre vier süddeutschen Großeltern ein und nimmt so die Fäden einer Familiengeschichte auf, welche schließlich in Neuguinea, auf kolonialistischem Boden, zusammenführen. Anfang des 20. Jahrhunderts reisen die vier Missionarinnen und Missionare ins "Kaiser-Wilhelmsland", um dort als Wegbereiter des christlichen Glaubens die "Heiden" zu bekehren. Da ist Heiner, der als ehemals perspektivloser Bauernsohn nun erfolgreich eine Plantage für die Mission verwaltet. Marie, die gerne Ärztin geworden wäre, sich aber den Vorstellungen von Männern und Kirche fügt. Johann, der charismatische Prediger und Träumer vom neuguineischen Gottesstaat. Und schließlich Nette, die großen Verlust erlitten hat und hier einen Neuanfang sucht. Die beiden Ehepaare gründen auf Neuguinea ihre Familien und erleben die Missionstätigkeit auf der Südsee-Insel, den Kolonianismus und zwei Weltkriege auf unterschiedliche Weise.

Der Erzählstil und die Sprache haben mir sehr gefallen. Die Autorin schreibt eindrücklich, mit klugen Bezügen, durchgehend im Präsens und verzichtet auf die Kenntlichmachung wörtlicher Rede, sodass Handlung, direkte Sprache und Gedanken ineinander übergehen und man sich als Leserin in einer ständigen Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen befindet. Die Perspektive wechselt zwischen den vier Großeltern und manchmal auch mitten im Absatz zur Erzählerin in die Gegenwart. Da der Roman sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt und mit den zwei Familien, zahlreichen Kindern und Kindeskindern, sowie vielen Missionstätigen auch in der Breite weit aufgestellt ist, kann man mit den Namen schon einmal durcheinander kommen. Insgesamt ergibt sich so eine hohe Komplexität in der Erzählstruktur, welche die Aufmerksamkeit der Leser fordert.

Die Enkelin, die sich mehr als ein Jahrhundert später auf Spurensuche begibt, ergreift im Laufe der Geschichte immer wieder das Wort und führt durch den Roman. Sie stößt auf Fotografien, Reiseberichte, Briefe, Erzählungen von Verwandten, erinnert sich an ihre eigenen Wahrnehmungen in der Kindheit und versucht so, sich der Geschichte ihrer Großeltern anzunähern. Einer Geschichte, die auch geprägt ist von hierarchischen Machtverhältnissen, religiöser Überlegenheit, Ausbeutung und der Vorrangstellung des weißen Mannes, sowohl im Sinne von Rassismus als auch im Sinne von Frauenunterdrückung. Wie haben ihre Großeltern damals gehandelt und welche Gründe hatten sie? Wie haben sie gefühlt und gedacht?

Der eigentliche Spagat des Buches besteht darin, die Geschichte aus der Perspektive der Großeltern als Roman erzählen zu wollen - und trotzdem nicht vollkommen darin aufzugehen, sondern (angesichts der problematischen Themen) eine kritische Distanz zu bewahren. Ein Spagat, der insofern gut gelungen ist, als dass ich als Leserin das Gefühl hatte, in das Leben der Großeltern aus der Sicht der nachfolgenden Generationen einzutauchen. Insbesondere das Thema der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Nachfahren bis heute hat mich beim Lesen begleitet und zum Nachdenken angeregt. Wer allerdings eine objektiv-sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialisimus oder aber einen Roman mit steiler Spannungskurve und emotionaler Nähe zu den Protagonisten erwartet, wird enttäuscht werden. Die größte Nähe besteht zur Großmutter Nette, zu der die Erzählerin in ihrer Kindheit ein leises Band knüpfen konnte: "Wir saßen nebeneinander auf der Gartenbank, meine Großmutter und ich, und wir verdammten einander nicht." Und so ist auch der Umgang mit dem Handeln der Großeltern weder Verurteilung, noch Rechtfertigung. Nicht jede Situation wird für die Leser eingeordnet und doch ist die kritische Perspektive der Grundton der Erzählung. Insgesamt ein komplexes Werk, auf das man sich einlassen muss, das in seiner thematischen Vielfalt und Tiefe aber in jedem Fall eine Bereicherung darstellt und viel Raum für eigene Gedanken lässt!