ein Lesehighlight

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Barbara Kingsolver hat, wie sie im Vorwort zu diesem Roman schreibt, 2018 ein Wochenende in Bleak House in England verbracht, dem Haus von Charles Dickens, in dem er David Copperfield geschrieben hat. Am selben Wochenende beginnt sie den vorliegenden Roman zu schreiben, mit Dickens, wie sie sagt, an ihrer Seite.

Dickens wollte mit seinem Roman David Copperfield laut Kingsolver die institutionelle Armut und deren verheerende Auswirkung auf das Leben von Kindern in der damaligen Zeit anklagen. Dieses Anliegen Dickens überträgt Kingsolver auf faszinierende Weise in die heutige Zeit.

Demon Copperhead wird als Kind eines Teenagers in den 1990iger Jahren in Virginia/USA geboren. Er wächst vaterlos bei seiner alkohol- und tablettenabhängigen Mutter in einer Trailersiedlung in den Appalachen auf. Der Leser begleitet Demon von seinem 10. Lebensjahr bis zu seiner Volljährigkeit. Die Mutter stirbt an einer Überdosis an Demons 11. Geburtstag. Die Kindheit des Jungen war und ist von nun an erst recht gekennzeichnet von Armut und Härte.

Er wächst bei Pflegeeltern auf, die die Bezeichnung Familie nicht annähernd verdienen. Lieblosigkeit und Gewalt kennzeichnen sein Leben und schließlich immer wieder Drogen aller Art. Nur die einstigen Nachbarn, insbesondere Mr. und Mrs. Peggot und ihre zahlreichen Nachkommen und Verwandten bieten Demon ein Gefühl von Zuflucht und Heimat. Als Demon von einem Footballcoach aufgenommen wird, scheint sich das Blatt für ihn zum Positiven zu wenden. Doch durch eine Knieverletzung gerät Demon an schwer abhängig machende Opium enthaltende Medikamente, eine Abwärtsspirale beginnt.

Diese Geschichte wird in der Ich-Form vom erwachsenen Demon erzählt. Die Art, wie er von seiner unvorstellbar harten Kindheit berichtet, ist faszinierend, denn sie schont den Leser nicht, ist schnoddrig und witzig, und macht die Lektüre dieses Elends sogar erträglich. Stets scheint dabei ein Funken Hoffnung durch. Diese Hoffnung nährt sich aus dem Überlebenswillen des Jungen. Er zieht Kraft aus seiner Bindung zur wiedergefundenen Großmutter und seinem Onkel väterlicherseits und aus der Verbundenheit zu den Bewohnern des Ortes, in dem er aufgewachsen ist und der Schönheit der Umgebung, den bewaldeten Gebirgszügen der Appalachen, den "blauen" Bergen.

Dieser Roman ist faszinierend und schonungslos zugleich. Ich habe ihn gebannt und fassungslos gelesen, von Anfang an gefesselt von den unfassbaren Härten, die dieses Kind erleiden musste. Der Autorin gelingt es, den Leser Teil dieses verlorenen Waisen-Daseins und Junkee-Universums werden zu lassen. Man wertet bzw. verurteilt die Protagonisten nicht, man lebt geradezu mit und unter ihnen. Manche Szenen bekommt man nicht mehr aus dem Kopf, so drastisch schildert Demon sie. Und dennoch, stets vermittelt er den Eindruck eines Menschen, der seine Wurzeln und sein Leben in diesem abgehängten und durch die sogenannte Opiod-Krise schwer gebeutelten Teils der USA innig liebt.

Trotz der Länge des Romans, mehr als 800 Seiten, bin ich in einen regelrechten Lesesog geraten. Die Lektüre von Demon Copperhead hat mich sehr beeindruckt und nicht mehr losgelassen, so sehr bin ich abgetaucht in diese mir glücklicherweise bisher aus eigener Erfahrung erspart gebliebene Welt. Das Aufwachsen dieses Protagonisten unter erschreckend widrigsten Umständen in der Opiod-Krise in den USA ist dermaßen realitätsnah geschildert, dass es mich umgehauen hat.

Ganz im Sinne von Dickens kann man nichts anderes tun, als das System, das zu Armut, Ausbeutung und Verelendung ganzer Landstriche geführt hat, anzuklagen und zu verurteilen. Für mich ein Lesehighlight. Ich kann den Roman nur empfehlen und vergebe 5 Sterne.