Eine Kindheit in der Hölle: altes Leid in neuer Form

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aischa Avatar

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Es gehört schon eine überaus große Portion an Selbstvertrauen dazu, um sich an eine aktuelle Neuerzählung des Klassikers "David Copperfield" von Charles Dickens zu wagen. Aber Barbara Kingsolver hatte den Mut dazu, oder wie ihr Protagonist Demon Copperhead sagen würde, "sie hat die Eier in der Hose".

Kingsolver verlegt die Handlung nach Virginia, wo Demon in ärmlichen Verhältnissen in einem Trailer geboren wird. Der Vater stirbt vor seiner Geburt, der Tod der drogenabhängigen sehr jungen Mutter macht Demon in jungen Jahren zur Vollwaise und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien, die ihre Zöglinge aufs Übelste ausnutzen und missbrauchen. Staatliche Stellen sind überfordert und sehen nur allzu gern weg, Hauptsache die Kinder kommen irgendwo unter.

Wer mit Dickens` Vorlage vertraut ist, wird zahlreiche formale Parallelen finden, beide Romane sind in je 64 Kapitel gegliedert, und auch die Handlung weist im Großen und Ganzen Ähnlichkeiten auf. Mir hat es großen Spaß gemacht, zu entdecken, wie viele der Dickenschen Figuren auch in Kingsolvers Version auftauchen, so wird etwa der widerliche Kanzleischreiber Uriah Heep aus dem Original nun zu U-Haul, seines Zeichens rechte Hand des Football-Trainers und ein Intrigant vor dem Herrn. Aber Copperhead kann auch völlig ohne Kenntnis von "David Copperfield" gelesen werden. Der Roman ist ein Meisterstück der Sozialkritik, witzig aber auch brutal, unterhaltsam und scharfsinnig, lehrreich und gefühlvoll. Und er ist definitiv mehr als eine literarische Coverversion, Kingsolver hat Copperfield zwar als Schablone verwendet, aber ein durch und durch eigenes Kunstwerk daraus erschaffen.

Die Figuren wirken extrem lebensecht und bekommen die Chance, sich zu entwickeln, und wie die Autorin die Sprache gekonnt je nach Alter und Milieu der Personen anpasst ohne dass es aufgesetzt oder lächerlich wirkt hat mich beeindruckt . Darüber hinaus zeigt sie anschaulich, wie Profitgier und geschicktes Marketing der Pharmaindustrie zur Opioidkrise in den Vereinigten Staaten führte, mit knapp einer Million Toter, die durch legal verschriebene Schmerzmittel drogenabhängig wurden.

Dabei ist Demon ist durch und durch sympathisch, und ich habe selten so sehr (und noch dazu 864 Seiten lang) mit einer Romanfigur mitgefiebert. Uneingeschränkt lesenswert!