Düster, melancholisch, literarisch

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missmarie Avatar

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Ob das Buch ein Krimi ist, wie der Klappentext suggeriert, habe ich mich lange gefragt. Typische Plotelemente sind enthalten: Polizeiverhöre, eine tote, junge Frau, ein tatverdächtiger Lehrer. Doch irgendwie scheint es darum nicht so richtig zu gehen. Der Leser erfährt nur ganz am Rande vom Verbrechen selbst. Zwischen den Zeilen kann er sich irgendwann zusammenreimen, in welchem Fall die beiden Polizisten überhaupt ermitteln. Ohne den Klappentext hätte ich im ersten Viertel gar nicht recht gewusst, worum es gehen soll. Das Verbrechen selbst ist nur angedeutet. Die sonst zentrale Suche nach dem Täter ergibt sich von selbst. Denn der Tatverdächtige sitzt von Anfang an im Gefängnis.

Aber worum geht es dann? "Den Wölfen zum Fraß" erzählt eigentlich von Macht und Machtmissbrauch in all seinen Facetten. Es geht um Misshandlungen an Londoner Eliteinternaten in den 70er und 80er Jahren. Es geht um Vorverurteilungen durch die Medien und um die Käuflichkeit von Nachbarn und Bekannten. Hier kommt der Titel zum Tragen: Die Schüler, der Tatverdächtige, vermeintliche Iren und Ausländer, vielleicht sogar die Polizisten selbst werden "den Wölfen" - also Lehrern oder Medien - schutzlos vorgeworfen. Für mich steht die mit diesem Bild verbundene Grausamkeit im Vordergrund. Patrick McGuinness gelingt es auch sprachlich eine beklemmende Atmosphäre aufzubauen, die sich sehr gut mit den schrecklichen Inhalten deckt. Dennoch glaube ich, dass es dem Roman gut getan hätte, wenn die Handlung stärker fokussieren würde: Entweder auf den Fall oder auf die Internatsgeschichte. Die ständigen Sprünge liegen zwar in der Handlung begründet, nehmen aber den einzelnen Unterthemen ihre Sprengkraft. Die verschiedenen "Wölfe" stehen so gleichwertig nebeneinander und scheinen sich fast selbst zu relativieren.

Die Erzählstimme ist insgesamt melancholisch. Permanent scheint Ander - der erzählende Polizist - nach etwas zu suchen. Der Niederländer, der als Junge nach Großbritannien kam und mit jedem Wort Englisch zu einem anderen wurde, strahlt eine große Sehnsucht aus, die Patrick McGuinness in poetische Worte zu verpacken weiß. So entstehen viele kleine kunstvolle Passagen, in denen das Fehlen von Geschichte beschrieben wird. Die dazu verwendeten Metaphern haben mir gut gefallen. Darin liegt die große Stärke des Romans.

Obwohl ich durchaus Freude an den Sprachspielen, den Variationen des Fehlens und der Melancholie hatte, bleibt ein schaler Beigeschmack. Zu schwer fiel es mir, überhaupt in die Handlung einzusteigen. Erst nach gut 75 Seiten konnte ich einigermaßen folgen. Hätte ich das Buch nicht rezensieren wollen, hätte ich wahrscheinlich schon vorher aufgegeben.

Mein Fazit: Wer einen Krimi erwartet, sollte zu einem anderen Buch greifen. Poetische Sprache und überzeugende Metaphern dürften Literaturfans überzeugen. Der Lesegenuss wird jedoch durch die angedeutete Haupthandlung und die zu Beginn nicht vorhandene Leserführung erschwert.