Ein Spiel mit Seh- und Lesegewohnheiten

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"Silvius Schwarz machte das auch so, und zwar besser." Unter Kunsthistorikern stand der Name Silvius Schwarz für ein Forschungsvorhaben, das in die Sackgasse führte. Der Herausgeber eines Textes, der gratis im Internet herunterzuladen ist, hat sich offenbar an der Person des fiktiven Mannes aus dem 17. Jahrhundert festgebissen und ist genau in dieser wissenschaftlichen Sackgasse gelandet. Sein Dissertationsthema wurde abgelehnt, die Zeit läuft ihm allmählich davon. Die Figur des Silvius Schwarz weckte bei mir sofort die Assoziation zu Jakob Maria Mierscheid, jenem fiktiven Bundestagsabgeordneten, der durch Wikipedia- und Facebook-Einträge beinahe zur realen Person wurde. Um das Rätsel zu lösen, ob Mathias Gatza der Buchbranche mit Schwarz einen eigenen Mierscheid geschaffen hat, versuchte ich die Enträtselung seines literarischen Wimmelbilds.

 

Die verschiedenen Ebenen und Sichtweisen in Gatzas Roman sind typografisch sorgfältig getrennt. Vier Lebensläufe aus zwei Epochen lassen Leopold, den Schriftsetzer (\*1639), den Stilleben-Maler Silvius Schwarz (\*1653), Sophie von Schlosser, Silvius Cousine und Briefpartnerin (\*1657), und den ungenannten Herausgeber (\*1953) sehr glaubwürdig wirken. Eine Rahmenhandlung, die der Herausgeber und Kommentator des Textes an die Leser richtet, ein Briefwechsel zwischen Silvius und seiner Cousine Sophie, das krimireife Auftauchen und Ansammeln von Druckbogen aus dem 17. Jahrhundert, geheimnisvolle Funde von Toten in Wolfsgruben im Raum Dresden und die Erfindung der Fotografie durch Silvius Schwarz sind nur einige der Ebenen, aus denen "Der Augentäuscher" besteht. Streckenweise fühlt man sich als Leser wie eine Figur, die eine gemalte Person beobachtet, die eine gemalte Person beobachtet, die sich wiederum im Spiegel betrachtet. Versatzstücke werfen Fragen nach menschlichen Sehgewohnheiten auf, wenn z. B. eine Verknüpfung zwischen Barockmalerei und anatomischen Forschungen zu jener Zeit hergestellt wird, oder wenn in der Gegenwart eine reale Person zum Stoff der Regenbogenpresse wird. Hätte Silvius tatsächlich mit Gottfried Wilhelm Leibniz korrespondiert, wäre das sicher durch Quellen zu belegen. Aber was wäre, wenn im 17. Jahrhundert im Kurfürstentum Sachsen tatsächlich eine Gestalt wie Silvius mit fotografischen Platten aufgetaucht wäre, die sich unter Lichteinwirkung verändern? Hätte man ihn für einen Scharlatan gehalten oder für einen Verbrecher? Auch die Position des Setzers Leopold ist Anlass zum Grübeln. Ist ein Setzer nur zum Vervielfältigen von Schriftstücken da oder trägt er Verantwortung für den Inhalt? Texte und ihre Schöpfer wechseln bei Mathias Gatza die Plätze, wenn ein Schöpfer wiederum selbst im Text auftaucht. Um seine These über die Erfindung der Fotografie zu beweisen, wüsste nicht nur der anonyme Herausgeber gern, ob die Briefe in Form eines Briefromans echt sind oder nur so wirken. Sophie wirkt sehr jung und für ihre Zeit ungewöhnlich kritisch, wenn sie sich schriftlich bemüht, Silvanus von seinem hohen wissenschaftlichen Ross herunterzuhohlen.

 

Wer von Mathias Gatzas Spiel mit Lese- und Sehgewohnheiten keinen linear erzählten historischen Roman über Barockmalerei erwartet und beim Lesen das Augenzwinkern nicht vergisst, wird mit einem typografisch interessanten und inhaltlich ungewöhnlichen Buch belohnt.