Freiheit und Selbstbestimmung

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buecherfan.wit Avatar

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Mit “Der Duft von Erde und Zitronen” legt Margherita Oggero nach einer Reihe von sehr erfolgreichen Kriminalromanen einen Roman vor, der in Italien als ihr bester gefeiert wird. Sie erzählt die Geschichte einer Familie in einem Dorf in der Nähe von Neapel, das von einer mächtigen Familie der Camorra beherrscht wird. Keiner wagt es, sich zu wehren. Schutzgelder werden erpresst, und Verbrechen bleiben ungesühnt.

Lange Zeit bleiben Assunta und Saverio mit ihren Söhnen Antonio und Salvatore und Tochter Carmelina, genannt Melina verschont. Dann trifft es auch sie. Die 13jährige Enkelin Imma muss in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Dorf gebracht werden, nachdem sie sich mit einem Stein gegen die Vergewaltigung durch den Sohn des Bosses gewehrt hat. Seitdem lebt sie in einer Stadt im Norden bei einer Frau, mit der sienur entfernt verwandt ist und die mit der Aufnahme des Mädchens eine alte Schuld begleichen muss. Imma lebt wie eine Gefangene in der Wohnung, und sie vermisst ihre Familie, die Schule und den Kontakt zu Gleichaltrigen. Als sie einen Zweitschlüssel findet, gewährt sie sich täglich stundenweise Ausgang, während die “Tante” bei der Arbeit ist. Bei ihren Streifzügen durch die Stadt lernt sie auf dem Markt Paolo kennen, der eigentlich Student ist, aber dort für seinen Onkel Bücher verkauft. Er verkauft oder schenkt ihr Bücher, die einen Bezug zu ihrer Situation haben, ohne dass er ihre missliche Lage kennt.

Nicht nur ihre Familie im fernen Süden weiß, dass Imma nicht auf Dauer als Gefangene leben kann. Auch Imma setzt sich mit ihrer Situation auseinander. Dabei helfen ihr die Bücher. Sie liest “Oliver Twist” von Charles Dickens und lernt, dass man das Böse bekämpfen kann. Sie liest “Das Tagebuch der Anne Frank” und sieht die Parallelen: das Leben im Versteck bei fortwährender Bedrohung und erste Verliebtheit. Ray Bradburys Fahrenheit 451 zeigt ihr in einer Anti-Utopie, wie Menschen den Mut aufbringen, sich gegen einen übermächtigen Staat zu wehren und die von der endgültigen Vernichtung durch Verbrennung bedrohten Bücher durch mündliche Überlieferung zu retten. Und schließlich ist da noch Niccolò Ammanitis Roman “Ich habe keine Angst“, in dem der elfjährige Michele zufällig ein vor Monaten entführtes Kind entdeckt, das auf Befehl des örtlichen Bandenchefs mit Wissen einer ganzen Dorfgemeinschaft in einem Erdloch gefangen gehalten wird und schließlich ermordet werden soll. Michele rettet Filippo das Leben und verliert dabei fast sein eigenes. Diese Bücher bestärken Imma in ihrem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, und hier findet sie Rollenvorbilder für ihr eigenes Handeln. Sie begreift, dass man sich nicht passiv in sein Schicksal ergeben muss und hat schließlich den Mut und die Kraft, sich zu wehren, als die Gangster sie aufspüren. Sie unternimmt die nötigen Schritte, um ihr Leben und das der inzwischen lieb gewonnenen Rosaria zu retten und endlich als Zeugin des Mordes an einem jungen Mädchen aus ihrem Ort auszusagen. Wie die Sache ausgeht, erfährt der Leser allerdings nicht. Das Ende ist offen.

Margherita Oggero ist ein sehr schöner, einfühlsamer Roman gelungen, der aus wechselnder Perspektive eine berührende Familiengeschichte erzählt, in der Imma als Ich-Erzählerin eine eigene Stimme erhält. Mir hat der Roman sehr gut gefallen, vor allem auch die zugrunde liegende Überzeugung, dass Bücher eine neue Welt eröffnen und manchmal sogar Menschen helfen zu überleben.