Hilfsbereitschaft

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tokall Avatar

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Der Roman „Der ehrliche Finder“ ist der dritte Roman der Autorin Lize Spit, die v.a. mit ihrem Debut „Und es schmilzt“ in ihrer Heimat für Aufsehen gesorgt hat. Sie hat sich für ihr Buch von einem wahren Fall inspirieren lassen, von der Geschichte der zehnköpfigen Familie Zenelaj, die vor dem Krieg im Kosovo nach Belgien flüchtete. Zentral sind die Themen „Freundschaft“ und „Flucht“. Im Zentrum der Handlung steht der Drittklässler Jimmy, der zu einem Übernachtungsbesuch bei seinem kosovarischen Freund Tristan Ibrahimi eingeladen wird.

Die Stärke des Romans ist in meinen Augen die Charakterzeichnung von Jimmy. Er leidet einerseits unter der Scheidung seiner Eltern sowie den beruflichen Verfehlungen seines Vaters und legt einige ungewöhnliche, auffällige Verhaltensweisen an den Tag. Andererseits ist er ein außerordentlich leistungsstarker Schüler, der sich aufopferungsvoll um seinen neuen Mitschüler Tristan und dessen Lernerfolg kümmert. Es wird sehr gut deutlich, dass Jimmy zeitgleich Außenseiter und hilfsbereiter Freund ist. Allerdings wirkt seine Hilfsbereitschaft besitzergreifend und obsessiv, sie geht über ein normales Maß hinaus, war mein Eindruck. Er nimmt seine Aufgabe mehr als ernst. Jimmy scheint selbst eine schwere Zeit durchzumachen. Und zugleich ist er sehr, sehr stark auf Tristan fixiert. Das Verhalten von Jimmy hat stellenweise etwas Zwanghaftes an sich. Alles muss seine Ordnung haben, das zeigt sich insbesondere bei seiner Sammelleidenschaft. Nicht zuletzt ist er sehr leichtgläubig und beeinflussbar, stellenweise wird sogar deutlich, dass er sich geprüft fühlt. Als Familie Ibrahimi in eine Krise gerät, will Jimmy helfen und hinterfragt in meinen Augen (zu) wenig. Die Verzweiflung der Ibrahimis führt zu einem Akt des irrationalen Handelns. Und Tristan scheint Jimmys Gutmütigkeit und Naivität ausnutzen. Oder ist es doch nur kindlicher Leichtsinn, der sich hier zeigt? Für mich sind hier verschiedene Lesarten deutlich. Das hat mir sehr gut gefallen!

Was in erzählerischer Hinsicht sehr gelungen ist, ist der Umstand, dass wir die ganze Zeit an Jimmys Perspektive gebunden sind. Aus seiner Sicht wird erzählt. Es fehlt eine Außensicht auf ihn. Ich hätte mir stellenweise einen anderen Blickwinkel gewünscht, um mir vorstellen zu können, wie Jimmy auf Tristan und die Ibrahimis wirkt. Aber ich denke, die Autorin hat sich bewusst für diese erzählerische Gestaltung entschieden, um auf diese Weise Interpretationsspielräume zu eröffnen. Sehr geschickt! Am Ende kulminiert die Handlung in einem packenden Höhepunkt. Der Aufbau von Spannung ist der Autorin sehr gut gelungen. Als Leser:in ahnt man und man befürchtet, worauf es hinausläuft, aber man hofft bis zum Ende, dass es nicht so weit kommt. Das Ende problematisiert eine zentrale Frage im Hinblick auf „Flucht“: Wohin führt es, wenn man institutionellen Druck auf Flüchtlinge ausübt? Ein Thema, das hochaktuell ist. Von mir gibt es für dieses großartige Buch 5 Sterne!