"Minenfelder im Gedächtnis"

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Auf dem Weg zurück von einer Podiumsdiskussion in Mainz erfährt Said Al-Wahid, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er entschließt sich mit dem Zug zum Frankfurter Flughafen zu fahren und den nächsten Flug nach Bagdad zu nehmen. Auf der Reise in seine alte Heimat, dem Irak, erinnert sich Said an verschiedene Begebenheiten aus seinem Leben, die ihn geprägt haben. Davon erzählt Abbas Khider in seinem neuen Roman „Der Erinnerungsfälscher“, durchaus mit trockenem Humor, und es wird deutlich, dass Said Probleme hat, sich genau zu erinnern. Er leidet unter Gedächtnisstörungen, vermutlich eine Form von Verdrängung als eine psychische Konsequenz des traumatischen Erlebten. So konstruiert er selbst die Zusammenhänge zwischen seinen unverbundenen Erinnerungsfetzen. Immer wieder kommt es zu „Assoziationsketten“, die ihn in die Vergangenheit führen. Dabei wird vor allem deutlich, was für einen schweren Weg Said hinter sich gebracht hat, bevor er in Deutschland sein privates Glück gefunden hat. Auch wird deutlich, dass Said eine ganz andere Lebenswelt kennen gelernt hat. Anhand der Schilderungen wird einem als Leser erst bewusst, wie gut es einem eigentlich in Deutschland geht, v.a. wenn man hier groß geworden ist, ohne schwerwiegendere traumatische Erfahrungen durchlebt zu haben. Gleichzeitig wird spürbar, dass Said sein eigenes Heimatland fremd geworden ist; in Bagdad angekommen, verspürt er keine Emotionen, sondern eine innere Leere. Auch das offene Ende des Romans, über das man noch lange nachdenkt, empfand ich als gelungen. Als besonderes Highlight, das mich zum Nachdenken anregte, habe ich den intertextuellen Bezug zur Novelle „Die Taube“ von Patrick Süskind wahrgenommen, in dem das Thema „Traumata“ ebenfalls eine Rolle spielt. Darin ist die Hauptfigur Jonathan Noel eine völlig verunsicherte Persönlichkeit mit Lebensangst. Vergleiche zu Said drängen sich förmlich auf. Und Abbas Khider wird nicht zufällig diesen Titel erwähnt haben, doch das Anstellen weiterer Reflexionen hierzu überlasse ich jedem einzelnen. Ich komme stattdessen zurück auf die bereits erwähnten „Assoziationsketten“ und auf die Frage, welche Erfahrungen Said genauer schildert:
[AB HIER SPOILERWARNUNG] Ausgehend von seinem deutschen Reisepass, den er aus Misstrauen den deutschen Behörden gegenüber immer bei sich trägt, erinnert sich Said beispielsweise an das sehr bürokratische Verfahren seiner Einbürgerung, das er mit allen damit in Zusammenhang stehenden unlogischen Regelungen genau beschreibt. Als Leser erhält man dabei einen sehr guten Einblick in bürokratische Absurditäten und kann nachempfinden, wie verunsichert man sich als Fremder in Deutschland fühlen mag, sobald man mit offiziellen Formalitäten konfrontiert wird. Auch erhalten wir einen Einblick in Saids Kindheit, seine Beziehung zu seiner Mutter, die so gut wie nie lachte, wird thematisiert. Wir erfahren, dass sein Vater als Landesverräter hingerichtet wurde und seine Familie mit Ausgrenzungserfahrungen zu kämpfen hatte. Seine Schwester starb bei einem Bombenattentat, wie wir später erfahren. Beim Anblick von Polizei rücken „Erinnerungsbrücken“ an Polizeikontrollen wieder in Saids Bewusstsein, er begegnete nicht nur Ressentiments von Seiten der Polizei, sondern erlebte auch Rassismus. Die Begegnung mit einem Nazi bei einem Kneipenbesuch wird ebenfalls geschildert. Weiterhin berichtet Said von Besuchen im Heimatland und davon, wie dieses Land im Chaos versinkt, weil bewaffnete Milizen die Kontrolle übernommen haben. Er beschreibt auch seine mehrjährige Fluchtroute, die ihn von der Stadt Amman in Jordanien, über Ägypten und Libyen bis nach Athen geführt hat. Nicht zuletzt bleibt auch das Thema der Religion natürlich nicht ausgespart. Said, der nicht religiös erzogen worden ist, macht klar, dass es zwischen den Arabern große Unterschiede gibt, was die Ausübung der religiösen Praxis angeht. Am Beispiel eines Mitschülers geht er dann auch darauf ein, dass Antisemitismus bei einzelnen Fanatikern ein großes Problem sein kann.
Letztlich kann das Schicksal von Said exemplarisch für das anderer Flüchtlinge in Deutschland stehen und das macht diesen Roman für mich so interessant. Man erhält einen Einblick in die Lebenswelt und in die Erfahrungen eines Flüchtlings aus dem Irak, und das aus der Feder eines Autors, der eine ähnliche Lebensgeschichte wie Said aufweist. Einige biographische Überschneidungen zwischen der fiktiven Figur Said und Abbas Khider gibt es nämlich. Und hier stellt sich natürlich zwangsläufig die Frage, wie autobiographisch geprägt der vorliegende Roman eigentlich ist. Das kann nur der Autor beantworten. Auf jeden Fall leistet der Roman einen Beitrag dazu, Empathie gegenüber Flüchtlingen entwickeln zu können.

Fazit: Ein Roman, der dem Leser/ der Leserin einen interessanten Einblick in die Biographie und in die Gefühls- sowie Erlebniswelt eines irakischen Flüchtlings gibt, der zum Nachdenken anregen kann und der einen Beitrag dazu leistet, Empathie gegenüber Flüchtlingen zu entwickeln bzw. beizubehalten.