Unzuverlässige Erinnerung

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buecherfan.wit Avatar

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Der gebürtige Iraker Said Al-Wahid hat vor vielen Jahren den Irak verlassen und in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat mit ihr einen kleinen Sohn. Said will gerade von einer Podiumsdiskussion in Mainz nach Berlin zurückkehren, als er durch einen Anruf seines Bruders Hakim erfährt, dass seine Mutter im Sterben liegt. Sofort organisiert er seine Reise nach Bagdad, weil er sie noch einmal sehen will. Während er auf Zug- und Flugverbindungen wartet, erinnert er sich an die Etappen seiner Flucht aus dem Irak: nach Jordanien, durch Ägypten nach Libyen und schließlich München und Berlin. Er erinnert sich an die schier unüberwindlichen bürokratischen Hürden und die Götter in den deutschen Dienststellen, die über sein weiteres Schicksal entschieden. Über einen langen Zeitraum drohte ihm ein „grenzüberschreitender Fußtritt eines Polizisten“ (S. 9). Said erinnert sich auch an sein Leben im Irak, seine Kindheit und die Mitglieder seiner Familie, die ums Leben kamen. Er wollte seine Geschichte schon längst aufschreiben, hat aber inzwischen festgestellt, dass es große Erinnerungslücken gibt, die er mit erfundenen Geschichten füllen muss und er kann oft nicht sagen, welche Erinnerungen wahr sind und welche nicht. Immer wieder erlebt er peinliche Momente, wenn Freunde und Bekannte die Vergangenheit beschwören mit der Frage „Weißt du noch…?“ Er will nicht zugeben, dass er an einer schwerwiegenden Gedächtnisstörung leidet.
Khiders neuer Roman berührt ebenso wie die mir bekannten Vorgänger „Der falsche Inder“ und „Die Orangen des Präsidenten“. Im neuen Buch kann der Leser sich in die Situation von Flüchtlingen versetzen, die, kaum dass sie Folter und Tod entronnen sind, jahrelang deutscher Behördenwillkür ausgesetzt sind. Ein schmales, aber eindrucksvolles Bändchen.