Ein lange zurückliegendes Verbrechen und seine Folgen

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takabayashi Avatar

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Bisher habe ich noch nie etwas von Hakan Nesser gelesen, weil mir die Tristesse und Brutalität der mir bekannten skandinavischen Krimis irgendwann so gegen den Strich gingen, dass ich dieses Genre vermied.
Ein Fehler, wie sich nun herausstellt, denn dieser Roman hat mit den gängigen Schwedenthrillern nichts gemein. Eigentlich ist es gar kein typischer Kriminalroman, eher ein Sittengemälde aus einer nordschwedischen Kleinstadt mit tiefen Einblicken in den Schulalltag an einer Gesamtschule.
Ein kauziger, jedoch ziemlich beliebter Schwedischlehrer, Eugen Kallmann, ist unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Die Polizei konstatiert einen Unfall und schließt den Fall. Doch im Kollegium und bei den Schülern zweifeln viele an der Unfalltheorie.
Leon Berger, Kallmanns Nachfolger, nach dem Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter aus Stockholm hierher geflüchtet, findet in Kallmanns altem Schreibtisch dessen Tagebücher. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, darin zu lesen.
Die Handlung des Romans wird aus der Sicht von mehreren Leuten erzählt, hauptsächlich sind das diese vier: Leon, der Mathematiklehrer Igor, die Beratungslehrerin Ludmilla und die fünfzehnjährige Schülerin Andrea, die irgendwie ein Angelpunkt der Geschichte zu sein scheint.
Die drei Lehrerkollegen schließen sich zusammen und "ermitteln". Alle drei haben die Tagebücher gelesen und rätseln an deren Inhalt herum. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Hat Kallmann wirklich ale Elfjähriger seine Mutter ermordet, weil sie seinen Vater betrogen hatte? Kann es tatsächlich sein, dass Kallmann niemandem mehr in die Augen schaute, weil er in den Augen erkennen konnte, ob jemand schon einmal gemordet hat? Offensichtlich hatte er einen Mörder erkannt und plante, in welcher Form auch immer, diesen zu "richten".
Durch die Berichte aus unterschiedlichen Perspektiven erschließen sich die Puzzleteile allmählich, so dass das Buch doch den Sog eines Kriminalromans entwickelt und man (also ich jedenfalls) das Buch nicht mehr weglegen kann und die ganze Nacht durchlesen muss.
Großartig geschriebener Gesellschaftsroman, der uns zeigt, dass sich sogar im liberalen Schweden rassistische, fremdenfeindliche Tendenzen ausbreiten und dass "Multikulti" auch dort nicht immer reibungslos funktioniert.
Der Roman lässt sich viel Zeit (immerhin 570 Seiten) und wir lernen auch die Hauptcharaktere ziemlich gut kennen. Wenn dann endlich alle Puzzleteile zusammenpassen ist man als Leser zufrieden, wenn auch etwas traurig.
Ein fulminantes Werk, unbedingte Leseempfehlung!