Eine moderne Fabel

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anman1 Avatar

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Ein Roman über (Cyber-) Mobbing ist nicht ganz leicht zu schreiben. Dies spürte ich auch, als ich "Der gefährlichste Ort der Welt" las.
Es war größtenteils langatmig, stellenweise wirkte es belehrend und auch die Gefühle der Charaktere wollten auf mich nicht richtig überspringen.

Doch zunächst möchte ich noch eben auf den Inhalt des Romans eingehen:
In dem idyllischen Ort Mill Valley nahe San Francisco scheint alles seinen gewohnten Gang zu nehmen. Auch in der Middle School von Mill Valley ist alles zunächst so wie gewohnt.
Als aber Tristan Bloch Calista "Cally" Broderick in einem Liebesbrief seine Liebe gesteht, gerät alles Durcheinander. Schon vorher war Tristan ein Außenseiter, doch durch diesen Brief hat er sich angreifbar gemacht. Er wird gemobbt, beleidigt und erniedrigt und er sieht nur noch eine Lösung: von der Golden Gate Bridge zu springen.
Nach seinem Tod verändert sich Cally stark; der Rest der Welt dreht sich weiter. Ein nachhaltiger Effekt auf Mill Valley bleibt aus.
Das normale Schulleben geht weiter, mit all seinen Schattenseiten und Kuriositäten. Davon handelt dieser Roman.

Obwohl dieser Roman eigentlich sehr viele Ereignisse behandelt, wirkte er langatmig. Ich denke, dass dies vor allem daran liegt, dass der absolute Höhepunkt und Wendepunkt dieser Geschichte ganz am Anfang passiert. Danach hat man fast das Gefühl, alles schon gelesen zu haben.
Daneben gab es kaum "Spannungshöhepunkte", die den Leser aufweckten. Ich dachte immer, dass noch etwas käme, aber tatsächlich kam nur noch wenig.
Unangenehm fand ich zudem, dass die Geschichte teilweise so belehrend wie eine Fabel wirkte, mit der zentralen Botschaft, die vor den Auswirkungen des (Cyber-) Mobbings warnt und die das amerikanische Schulsystem nicht gerade glorreich erscheinen lässt. Ich musste einfach feststellen, dass ein belehrender Unterton mitschwang; diese Vorwürfe wurden natürlich nicht direkt geäußert, ganz im Stile einer Fabel.

Ganz unabhängig davon sehe ich den Erzähl- und Schreibstil der Autorin.
Der Erzählstil wurde klug gewählt. Abwechselnd fokussiert der allwissende Erzähler einen anderen Schüler an und zwar immer so, dass die Geschichte immer aus der anderen Perspektive weitererzählt wird; mit allen Einzelheiten, die diese neue Perspektive ermöglicht. So lernt man viele neue Charaktere besser kennen und zugleich wird der rote Faden, der eigentliche Handlungsstrang des Romans weiterverfolgt.
Der Schreibstil von Lindsey Lee Johnson muss ich insgesamt als kunstfertig und beeindruckend loben. Zu Anfang des Romans blitzt dies nur vereinzelt auf, aber je länger man liest, desto mehr fällt einem die Schönheit der Sprache der Autorin auf. Die Bilder, die sie heraufbeschwört, die kleinen Details, die sie hin und wieder einwirft, sind eine Besonderheit dieses Romans.
Des Weiteren gefällt mir, wie dynamisch und vielschichtig die Figuren der Geschichte sind. Sie werden älter und vor allem, wenn der Erzähler wieder eine andere Person in den Fokus nimmt, tritt diese Vielschichtigkeit zu Tage.
Lange Zeit fiel es mir schwer, mit den Charakteren so richtig mitzufühlen, was sich gegen Ende auch immer mehr änderte. Vor allem das Ende ist meiner Meinung nach wundervoll geworden; man spürt so richtig die Melancholie und die Lust am Leben und sieht die wunderbare nordkalifornische Landschaft vor seinem innerem Auge.

Es bleibt mir damit festzuhalten, dass dieser Roman sowohl seine Licht- als auch seine Schattenseiten hat. Vor allem nachdem ich das Ende gelesen habe, habe ich einen ganz anderen Blick auf diesen Roman bekommen und konnte mir danach sogar vorstellen, ihn nochmal zu lesen.
Dieser belehrende Unterton, den ich vereinzelt bemerkte, gefällt mir aber immer noch nicht. Man könnte diesen Roman als eine Art moderne Fabel ansehen.