Das Boibiczer Wunder

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Auf diese Leseprobe war ich besonders gespannt, denn schon der Klappentext verspricht ein literarisches Vergnügen. Der Textauszug stellte meine kühnsten Erwartungen allerdings noch in den Schatten.

Bernie Karp entdeckt auf der Suche nach einem Stück Leber zum onanieren, einen gefrorenen Rabbi in der Tiefkühltruhe seiner Eltern. Beim Abendessen erfährt der dickliche 15jährige dass es sich hierbei keineswegs um ein dunkles Geheimnis sondern vielmehr um ein Familienerbstück handelt. Von Generation zu Generation wird der Eisblock in der Familie weitergegeben. Als gutes Omen sozusagen. Einige Wochen später, Bernie ist allein zu Hause, fällt während eines Unwetters der Strom aus. Und aus der Kühltruhe kommt Leben. Rabbi Elieser, das Boibiczer Wunder, ist aufgetaut. Etwas matschig aber ansonsten gut erhalten, lässt er sich von Bernie aus der Truhe helfen.

Die Leseprobe spielt in zwei Zeiten. 1999 findet Bernie den gefrorenen Rabbi in der Truhe. Wobei der Fund nicht einmal das groteske an der Szene ist. Vielmehr erläutert Steve Stern auf höchst offene Weise warum der lethargische Bernie überhaupt in den Keller geht. Er ist auf der Suche nach einem Stück Fleisch mit dem er intim werden kann. Er, der sonst kein Buch liest, hat dies in einem erotischen Klassiker seiner Eltern überflogen. Ein paar wenige, kurze Sätze genügen um die ganze peinlich alltägliche Daseinssituation eines pubertierenden Jugendlichen darzustellen. Meisterhaft.

Dann springt der Text zurück in den Winter 1889-1890. Wir erfahren wie es dazu kam, dass Rabbi Elieser in Boibicze zu Eis wurde. Während einer Meditation versinkt der schlafende Mann in einem See und wird erst im kommenden Winter gefunden, aus dem Eis gehauen und im Eishaus von König Cholera und seinem Sohn Salo aufbewahrt (allein die Namen!). Fast die gesamte jüdische Bevölkerung des Dorfes wird in diesem Winter bei einem Pogrom der Russen niedergemetzelt. Steve Stern beschreibt dies schonungslos, aber nicht grausam. Seine Wortwahl und Szenenmalerei sind großartig. Nur Salo, der 17jährige bislang nutzlose Sohn des Eishändlers überlebt. Plötzlich auf sich allein gestellt, packt er den gefrorenen Rabbi auf einen Pferdewagen und verlässt das Dorf.

Unwillkürlich fragt man sich, ob es hier eine Parallele zu Bernie gibt. Unzweifelhaft ist Salo sein Vorfahr. Und er erfährt durch den Rabbi einen Sinn in seinem Leben. Es wird sich wohl bei der Lektüre herausstellen, ob dies auch für Bernie gilt. Aber wie es auch sein wird. Allein die Leseprobe zeigt was für ein erzählerisches Talent Steve Stern hat. "Der gefrorene Rabbi" scheint schlicht und einfach eine gute Geschichte zu sein. Skurril, humorvoll, vielleicht auch mit ernstem Hintergrund. Auf jeden Fall lesenswert!