Das jüdische Epos

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
murksy Avatar

Von

Wie schreibt man eine Rezension, die man eigentlich gar nicht schreiben sollte? Entsetzte Blicke: Warum denn nicht schreiben? Nun, weil der Rezensent sofort Gefahr läuft, etwas dieser herrlichen Geschichte vorneweg zu nehmen. So breitgefächert und vielseitig stellt sich das Buch dar, dass es wirklich schwer fällt, nicht zuviel zu verraten. Zumindest die skurille Grundgeschichte muss erwähnt werden. Ein Junge findet in der Gefriertruhe seiner Eltern einen Leichnam, genauer, einen eingefrorenen Rabbi. Die Eltern wirken wenig überrascht, nein, sie erklären ihrem Sohn sogar die Herkunft des Mannes, der quasi ein altes Erbstück darstellt. Ungläubig nimmt der Sohn die Erklärungen hin. Richtig schräg wird es dann, als bei einem Stromausfall der Rabbi auftaut und erwacht. Nebenbei erfährt der Leser, wie es zu der prekären Situation des Geistlichen kam. Einhundert Jahre zuvor wurde der Mann beim Meditieren von kräftigen Regenfällen überrascht. Da er sich auf einer geistigen Reise ausserhalb seines Körpers befand, konnte er nicht verhindern, dass der leblose Körper von den Wassermassen verschlungen und im Winter sogar eingefroren wurde. Was dann im Laufe der weiteren Geschichte folgt, ist eine Odysee des gefrorenen Rabbis über hundert Jahre und von Polen bis nach Amerika, die voller Geschichten und Nebenerzählungen überquillt. Deshalb auch die Schwierigkeit einer Rezension. Denn mit jeder Geschichte, die hier wiederholt wird, nimmt man dem zukünftigen Leser etwas an Verblüffung darüber, welche Wege sich kreuzen, welche Personen ihr Schicksal erfahren. Und nicht zu vergessen darf werden, dass es vielmehr um die Erzählung einer jüdischen Familie geht, die ihren Weg aus der Vertreibung bis ins ferne Amerika findet. Nebenbei wird noch über die Eisherstellung erzählt, über Verbrechersyndikate, den Aufbau Israels und und und.

Ein Epos, dass vor Ideen strotzt. Es erinnert an „Garp“ oder „Forrest Gump“ in ihrer Vielfalt an Anekdoten und Querverweise, an die unterschiedlichen Personen auf ihrem Zickzack-Weg durch eine ihnen oftmals fremde Welt. Ein Familiensage, eine Suche nach der eigenen Identität, es gibt so viele Beschreibungen, die auf dieses wunderbare Buch passen würden. Bestimmt kein einfach zu lesendes Buch. Ein paar unachtsam gelesene Seiten würden dazu führen, den Anschluss zu verpassen oder wichtige Zusammenhänge zu versäumen, so dichtgedrängt sind die Einfälle des Autors, dessen bildgewaltige Ideen nicht abreißen zu scheinen. Die große Geschichte einer Familie und ihres Lebens, da wird der gefrorene Rabbi zum Bindeglied, der als roter Faden die Pfade markiert, aber nicht das Hauptthema ist. Wie die Fäden eines fein gewebten Teppichs breiten sich die einzelnen Personen aus, um doch zusammenhängend in aller ihrer Komplexität das Meisterwerk zu vollenden. Brillant, grandios, in der Vielzahl der Geschichten teilweise erschlagend.

Was das Lesen der Leseprobe erschwerte, war das fehlende Glossar (keine Sorge, das Kaufexemplar beinhaltet dies). Sehr viele jüdische Begriffe und Ausdrücke mussten erst im Internet nachgeschlagen werden. Doch dies zeigt nur das Feingefühl und die Liebe zum Detail des Autors. Meisterhaft!

Dass die Rezensionen sehr durchwachsen ausfallen liegt vermutlich daran, dass dieses Buch konzentrierte und aufmerksame Leser erfordert. Wer leicht zu lesende Literatur bevorzugt, sollte hiervon Abstand nehmen.