Allein, die Welt hat mich vergessen

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tochteralice Avatar

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Die erste Zeile aus einem alten Nina-Hagen-Lied: Die Überschrift für Kyas Leben. Denn Kya ist ab ihrem sechsten Lebensjahr komplett auf sich gestellt - zuerst verabschiedet sich die Mutter, dann nach und nach die wesentlich älteren Geschwister. Zurück bleibt sie mit ihrem Vater, einem unberechenbaren Säufer und Alkoholiker, der sich kein bisschen um sie kümmert (abgesehen von wenigen Highlights) und dann irgendwann auch die Biege macht. Da ist sie immer noch ein ziemlich kleines Kind.

Kya hat nichts: kein Geld und kein Wissen und vor allem überhaupt keinen Rückhalt. Nirgendwo.

Sie war nur einen Tag in ihrem Leben in der Schule (ein Desaster!), kann weder lesen, rechnen noch schreiben. Vor allem aber hat sie niemanden, der für sie sorgt, der sich auch nur ein Fitzelchen für sie interessiert. Und sie lebt mitten im Marschland, in den Sümpfen der us-amerikanischen Südstaaten. Wo sie sich selbst beibringt, das zurückgelassene Motorboot ihres Vaters zu führen und allmählich auch, sich einen Lebensunterhalt zu sichern. Sie verkauft Muscheln an einen afroamerikanischen Ladenbesitzer namens Jumpin', der sich ebenso wie sie am Rande der Gesellschaft befindet. Nicht vergessen, wir befinden uns in den Südstaaten, zudem datiert die Handlung in den 1950er und 1960er Jahren, genauer gesagt zwischen 1952 und 1970. Jumpin' und seine Frau Mabel werden zu Bezugspersonen für Kya, genauer gesagt zu einer Art Verbindung zur Zivilisation, einer Art Anker in der Gesellschaft. Gewissermaßen zu ihrer Rettung in einer ausweglosen Zeit. Zu dem, was am nächsten an Eltern herankommt.

Zudem kommt es inhaltlich zu einem kleinen Bruch, als ein Junge - Tate - in Kyas Leben tritt und zu einer Art Professor Higgins (Pygmalion, Sie erinnern sich) wird. Er bringt ihr nämlich Lesen und Schreiben und einiges mehr bei. Sie hat das Gefühl, ihm völlig vertrauen zu können, bis er eines Tages weg ist. Und irgendwann von einem anderen Jungen, Chase, der eine Art Star in der Stadt ist, ersetzt wird. Jahre später wird dieser tot aufgefunden - das kann ich getrost verraten, weil das Buch damit beginnt, doch es ist keinesfalls ein Krimi, vielmehr ein gesellschaftskritischer Roman.

Leider einer, der ab dem zweiten Drittel stellenweise ein wenig an dem bis dahin so faszinierenden herben Zauber und Schwung verliert, zu sehr in Sphären wie Liebe, Leidenschaft und Rache abdriftet. In eine Gefühlswelt, die mich an in diesem Kontext ausgesprochen unpassende Musical-Szenen à la Westside Story erinnert.

Ich habe den Roman dennoch über weite Teile sehr gern gelesen - die Autorin hat einen wunderbaren Stil und versteht es, das Marschland der amerikanischen Südstaaten so eindringlich zu beschreiben, dass man als Leser das Gefühl hat als würde man selbst dort feststecken, Muscheln sammeln oder einfach auf einem Steg sitzen und den zahlreichen Vögeln zuschauen. Obwohl ich fast durchgehend immer wieder Kritikpunkte hatte, konnte ich einfach nicht aufhören zu lesen.

Es kommen zahlreiche Passagen vor, die an Romane wie "Vor dem Sturm" von Jesmyn Ward und "Winters Knochen" von Daniel Woodrell erinnern - letzterem kam sie von der Atmosphäre gelegentlich gefährlich nahe, ohne jedoch ganz an seine Kraft heranzureichen.

Ein Roman, der mich zwiegespalten zurück lässt, mich aber dennoch zu fesseln vermochte!