Das Mädchen aus den Sümpfen

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kleine hexe Avatar

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Eine arme Familie lebt in den Küstensümpfen von Nord-Karolina im Süden der USA. Der Vater ist ein Alkoholiker der Frau und Kinder brutal schlägt. Einer nach dem anderen verlassen ihn die Kinder und die Ehefrau. Zurück mit dem gewalttätigen Vater bleibt nur das jüngste Kind, Kia. Mehr schlecht als recht schlägt sich Kia durch, lernt dem Vater auszuweichen, wenn er betrunken ist, putzt und kocht für ihn und geht mit ihm fischen. Doch irgendwann bleibt auch der Vater aus, und mit ihm fällt auch seine magere Invalidenrente weg. Kia ist zehn Jahre alt. Sie lebt allein im Sumpf, die weiße Bevölkerung des nahen gelegenen Städtchens verachtet sie, meidet sie, verbietet ihren Kindern jeglichen Kontakt zu ihr. Die einzigen, die ihr beistehen, sind Jumpin und seine Frau Mabel, Schwarze aus dem benachbarten „Coloured Town“. Manchmal sieht sie aus der Ferne andere Fischer, ab und zu auch Tate, der ein Freund ihres verschwundenen Bruders Jodie war. Auf sich allein gestellt lebt sie die nächsten vier Jahre. Sie gräbt Muscheln aus, angelt, räuchert Fische, verkauft sie an Jumpin für Treibstoff für ihr Boot und ein paar magere Lebensmitteln.
Kia ist hoch intelligent. Sie kann zwar nicht lesen, schreiben, rechnen, hat keinerlei Schulbildung je genossen, aber ist interessiert an allem was sie umgibt. Sie ist fest verwurzelt mit der einzigartigen Sumpfgegend, in der sie lebt, kennt und versteht die Pflanzen- und Tierwelt, ob zu Lande, im Wasser oder in der Luft. Und zusammen mit Kia entdecken auch wir, die Leser, die Moore, die Vogelwelt, die Muscheln, Gräser, den Einfluss der Gezeiten und der Jahreszeiten. Wir entdecken die Schönheit der Sonnenauf- und -untergänge, wir entdecken temporäre Sandbänke, die mit der nächsten Flut wieder verschwinden werden. Und wir bewundern Kia, zollen Ihr Respekt für die Art wie sie ihr schweres Leben meistert, sich nicht unterkriegen lässt, offen für all das Schöne und Wunderbare ist, das sie umgibt. Sie wird Teil des Marschlandes, anderswo könnte sie nie leben.
Kia ist Menschenscheu. Tate versteht es, sich ihr zu nähern, ohne sie zu erschrecken. Zuerst lässt er für sie Federn oder Muscheln an einer Stelle zurück, an der sie vorbeikommen muss, dann, als Kia ihm auch solch kleine Geschenke hinterlässt, taucht er selbst auf, spricht mit ihr ganz behutsam, verspricht ihr, ihr Lesen und Schreiben beizubringen. Kia akzeptiert das denn Lesen und Schreiben zu können war schon immer ihr Herzenswunsch. Und tatsächlich, Tate und Kia freunden sich an, Tate gelingt es, Kia die nie besuchte Schule zu ersetzen, Kias wacher Geist saugt Tates Wissen wie ein Schwamm auf. Sie liest alle Bücher, die Tate ihr vorbeibringen kann. Tate geht nebenbei zur Schule, arbeitet mit seinem Vater und trotzdem findet er Zeit, Kia regelmäßig aufzusuchen, mit ihr zu lernen.
Doch Tate muss aufs College. Er will Biologie studieren, denn genau wie Kia ist er fasziniert von der Natur des Marschlandes. Er verspricht zwar Kia sie weiterhin zu besuchen, aber er wird wortbrüchig. Er hat weder die Stärke, ihr zu sagen, dass er sie verlässt, noch sie mit zu nehmen, sie aus dem Moorgebiet zu holen. Und wieder bleibt Kia allein zurück, Alle die sie geliebt hat, die sie ganz nah an sich herangelassen hat, haben sie verlassen: die Geschwister, die Mutter, der Vater und nun auch Tate.
In ihrer Einsamkeit lässt sie es zu, dass ein anderer Mann sich ihr nähert. Es ist Chase Andrews. Quarterback und sunny boy, gutaussehend, überheblich, der Held von Barkley Cove. Die zwei beginnen eine Affäre, in die Kia gutgläubig hineingeht denn Chase spricht von Hochzeit, von einem gemeinsamen Haus am Rand von Barkley Cove, er will sie seinen Eltern vorstellen, und so weiter. Doch er findet immer wieder Ausreden, warum es gerade nicht geht, warum er sie nicht mitnimmt in die Stadt, zu den Parties, weil sie sich ja nur langweilen würde, weil die vielen Menschen sie nur stören würden, usw. Für Chase ist Kia nur ein kleines Abenteuer bis zu seiner Hochzeit mit einem Mädchen aus der Stadt, einer guten Partie, mit der beide Familien einverstanden sind. Kia erfährt von der Verlobung aus der Zeitung und weigert sich fortan noch Chase zu begegnen. Eigentlich hat sie Chase nie so geliebt wie Tate, aber er war da und machte ihr die Einsamkeit erträglicher. Letztendlich war Chase nur auch einer von jenen, die eine Zeitlang da waren ums ie dann still und heimlich zu verlassen.
Dieses ist die eine Ebene und Seite des Romans. Kias Leben in der Einsamkeit der Sümpfe, ihre Freundschaft und Liebe mit Tate und ihre Affäre mit Chase, in den Jahren 1952 bis 1967.
Die andere Ebene ist zeitlich versetzt. Sie spielt 1969 – 1970 ab. Chase wurde unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden und die Polizei von Barkley Cove führt die Ermittlungen. Der Verdacht erhärtet sich, dass Chase nicht als Folge eines Unfalls starb und Selbstmord wird auch ausgeschlossen. Nun beginnt die Suche nach dem Mörder. Das Städtchen ist schnell dabei, den Stab über Kia zu brechen. Zum einen ist sie „WhiteTrash“ aus dem Sumpf, zum anderen lebt sie allein, sie hat nie die Schule besucht, wenn sogar die eigene Familie sie verlassen hat, ist sie also schuldig. Außerdem, Chase Andrews war ein rechtschaffener Mann, verheiratet, eine Stütze der Gesellschaft. Bestimmt hat sie ihn verführt, auch wenn Zeugen gesehen haben wollen, wie Kia vor ihm weggelaufen ist, nachdem er versucht hat, sie zu vergewaltigen.
Es kommt zum Prozess. Tate, sein Vater, Jumpin und Mabel stehen zu ihr, auch ihr Bruder Jodie kommt, nachdem er vom Prozess aus der Zeitung erfahren hat. Der Prozess zieht sich hin. Es haben die 70er Jahre des 20. Jahrhundert begonnen. Nicht nur dürfen Mabel und Jumpin im Gerichtssaal direkt hinter Kia sitzen, nein, in den Köpfen einiger weißer Menschen hat ein Umdenken begonnen. Einige erkennen, wie sehr sie als Gemeinschaft versagt haben, ein kleines Mädchen auszustoßen, nie zu fragen, wie sie lebt, ob sie zu Essen hat, ob sie etwas braucht. Jumpin und Mabel haben das auf ihre unaufdringliche liebevolle Art getan. Und auch das wurde Kia vorgeworfen: Sie würde von den „Niggern“ abgelegte Kleidung anziehen und nur mit ihnen Freundschaft pflegen. Aber wenn sie die einzigen waren, die ihr beistanden, wie hätte sie denn je Freundschaft zu anderen Bewohnern von Barkley Cove pflegen können? Und so wird der Prozess über Kia letztendlich auch zu einem Prozess über Barkley Cove, die engstirnige selbstgerechte Kleinstadt in der Außenseiter keine Chance haben.
Von einem Buch über eine schwierige Kindheit zu einem Buch über die Schönheiten der Natur zu einem Krimi und zu einem Roman über einen Prozess, wie sie in den Staaten sehr beliebt sind, ist Delia Owens‘ Buch vielschichtig und faszinierend.
Ein großes Lob möchte ich auch dem Übersetzerteam Ulrike Wasel und Klaus Timmermann aussprechen. Ihnen ist der perfekte Grat zwischen der Hochform der amerikanischen Sprache und dem Südstaatenslang sowohl der weißen als auch der schwarzen Bevölkerung gelungen. Die Arbeit von Wasel und Timmermann hat wesentlich zum Lesegenuss beigetragen.