Eine Liebeserklärung an die Natur

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Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Im Jahr 1969 wird die Leiche des 31-jährigen Chase Adams entdeckt, der offensichtlich aus großer Höhe vom Feuerwachturm in die Marsch gestürzt ist. Chase ist, obwohl er verheiratet ist, als Frauenheld bekannt. Aufgrund fehlender Spuren geht der Sheriff schnell von einem Tötungsdelikt aus. Der Leser wird über den Verlauf der Untersuchungen auf dem Laufenden gehalten, bis es schließlich zur Gerichtsverhandlung kommt. Dabei spielen auch die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf den Umgang mit Farbigen und Außenseitern eine große Rolle.

Die zweite Handlungsebene beginnt im Jahr 1952 und verfolgt das Leben der Protagonistin Kya Clark. Dabei läuft die Zeit weiter, immer näher auf den Zeitpunkt des aktuellen Todesfalls zu. Beide Ebenen wechseln sich kapitelweise ab und es ist zunächst kein Zusammenhang erkennbar.

Kya Clark lebt mit ihrer Familie im einzigartigen Marschland von North Carolina in einer bescheidenen Hütte. Kya ist 7 Jahre alt, als ihre Mutter das Haus verlässt und niemals wiederkehrt, das ist 1952. Kurze Zeit später verabschieden sich ihre beiden älteren Geschwister, schließlich auch ihr Lieblingsbruder Jodie. Jeder dieser Verluste prägt das Mädchen immens, schließlich ist sie nun ihrem Vater, einem zu Gewalt neigenden Trunkenbold, ausgeliefert. Doch Kya ist stark. Sie macht das Beste aus der Situation, sie kocht, wäscht und versorgt den Haushalt, so gut sie eben kann. Der Vater bessert sich, die beiden entwickeln eine liebevollere Beziehung zueinander.

Als jedoch eines Tages ein Brief ihrer Mutter ankommt, verschlechtert sich die häusliche Situation und auch die Tage des Vaters in der Hütte sind gezählt. Fortan muss sich das Mädchen allein durchschlagen. Um der Einsamkeit zu entfliehen, freundet sie sich mit Möwen und Seevögeln an, die sie regelmäßig füttert und mitunter in ihrer Gesellschaft schläft.

Die Liebe des Mädchens zur Marsch sowie zur Tier- und Pflanzenwelt ihrer Heimat ist faszinierend, sie macht ihr die Einsamkeit erträglich:
„Die Sonne, warm wie eine Decke, umhüllte Kyas Schultern, lockte sie tiefer in die Marsch. Manchmal hörte sie nachts Geräusche, die sie nicht kannte, oder sie erschrak sich, wenn Gewitterblitze zu nah waren, doch wenn sie stolperte, war da immer das Land, das sie auffing. (…) Kya legte ihre Hand auf die atmende nasse Erde, und die Marsch wurde ihre Mutter.“ (S. 50)

Kya muss sich nun allein durchschlagen. Um Geld für notwendige Lebensmittel und Bootsbenzin zu bekommen, sammelt und verkauft sie Muscheln an den Farbigen Jumpin´. Er und seine Frau sind die Einzigen, die die Not des Mädchens erkennen und dafür sorgen, dass sie Nahrung und Kleidung bekommt. Die anderen Einwohner des Ortes schauen weg und verspotten das Kind, das zunehmend zur Außenseiterin wird. Kya ist scheu und schreckhaft, sie streift durch das Marschland, möglichst ohne jemandem zu begegnen.

Mit der Zeit freundet sich Kya mit Tate, einem Freund ihres Bruders Jodie, an. Er bringt ihr Lesen bei. Nun kann sie ihrer bemerkenswerten naturkundlichen Sammlung und ihren detaillierten Zeichnungen auch Texte hinzufügen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte. Doch auch diese Beziehung wird auf die Probe gestellt, als Tate die Schule beendet und 1965 zur Universität gehen muss. Kya bleibt erneut allein zurück.
An dieser Stelle möchte ich nicht mehr von der Handlung preisgeben. Die Autorin hat durch den Kriminalfall eine konsequente Spannungslinie in den Roman eingewoben. Man fragt sich von Beginn an, was Kya mit dem Tod von Chase Adams zu tun haben könnte. Nach und nach erfährt man als Leser mehr, bis sich beide Handlungsebenen vereinen und alles auf einen spannenden Gerichtsprozess hinausläuft.

Die Sprache liest sich flüssig und ist von der Liebe zur Natur geprägt. Das beweist schon der erste Satz:
„ Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt.“ (S. 11)

Beim Lesen wird man immer wieder von wunderbaren Metaphern überrascht. Später darf man sich auch an stimmungsvoller Naturpoesie erfreuen, die Tate und Kya miteinander teilen.

Die Einsamkeit des Mädchens ist stets fühlbar, aber niemals trostlos. Sie ist eine Kämpferin, die sich nicht unterkriegen lässt. Leider führt ihre Zurückgezogenheit aber auch dazu, dass sie Schwierigkeiten hat, menschliches Verhalten richtig einzuschätzen. Sie ist dabei auf alte Weisheiten ihrer Mutter und Vergleiche aus der Tierwelt angewiesen, die nicht immer passen und sie dann naiv erscheinen lassen. Das macht sie auf den ersten Blick zu einem gutgläubigen Opfer.

Ich bin sicher, dass dieser Roman breiten Leserschichten sehr gut gefallen wird. Er hat eine Mischung aus Unterhaltung und Anspruch, die ich sehr schätze. Die bildreiche Sprache macht die einzigartige Marschlandschaft mit ihrer Fauna und Flora lebendig. Kya wächst einem von Beginn an ans Herz, man verfolgt ihren Lebensweg mit großem Interesse. Dabei strahlen sie und die anderen Figuren große Glaubwürdigkeit aus. Man kann sich gut in sie hineinversetzen.

Ich wünsche diesem Roman viele Leser und erteile eine klare Lese-Empfehlung!