Krimi, Familiengeschichte, Gesellschaftsporträt
„ Long Bright River“ von Liz Moore habe ich gerne gelesen und mit dementsprechend hohen Erwartungen bin ich an ihren neuen Roman herangegangen und nicht enttäuscht worden.
Wir sind im Sommer 1975 in den Adirondack Mountains. Hier findet wie jedes Jahr ein Sommercamp für Kinder statt und die gut betuchten Familien Neuenglands schicken alljährlich ihren Nachwuchs hierher. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur soll ihnen hier vermittelt werden. So hatte es sich der Gründer des Camps, Peter Van Laar, vorgestellt und das Camp nach seinem Lieblingsphilosophen Emerson benannt. Unter der Aufsicht von Betreuern gibt es jede Menge Spaß und Unternehmungen für die Kinder; der Höhepunkt ist immer ein mehrtägiges Überlebenstraining im Wald.
Auf dem weitläufigen Gelände der Van Laars liegt dieses Ferienlager und über diesem thront das feudale Wohnhaus der Familie, ein Chalet namens „ Self-Reliance“, zu Deutsch „ Eigenständigkeit“, „ Selbstvertrauen“.
Wie jedes Jahr verbringt die reiche Bankiersfamilie Van Laar, Nachkommen jenes Gründers, ihre Sommermonate in den Adirondacks Mountains, laden Freunde und Verwandte ein.
In diesem Sommer nimmt auch die dreizehnjährige Tochter der Van Laars am Lagerleben teil. Barbara ist ein aufmüpfiger Teenager, widersetzt sich beständig allen Familienregeln und Mutter Alice ist froh, eine Zeitlang nicht Barbaras Launen ausgesetzt zu sein.
Doch eines Morgens ist Barbaras Koje leer und sie bleibt auch nach längerer Suche nicht auffindbar.
Das reißt alte Wunden auf, denn 14 Jahre zuvor ist schon Barbaras damals achtjähriger Bruder Bear spurlos verschwunden. Und obwohl sich die ganze Gegend an der Suche nach dem Jungen beteiligt hat, fand sich keine Spur von ihm, bis heute nicht.
Kann das ein Zufall sein? Oder gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Ist der aus dem Gefängnis geflohene Serienmörder Jacob Sluiter, genannt „ der Schlitzer“, der Täter? Immerhin wird er für zahlreiche Morde in der Gegend verantwortlich gemacht. Aber warum reagiert die Familie seltsam unberührt auf Barbaras Verschwinden? Und was wissen die Kinder aus dem Camp darüber und welche Geheimnisse verbergen die Betreuer?
Es sind viele Fragen, die sich im Verlauf der Lektüre einstellen. Und mit einem sicheren Gespür für Spannung und Timing entwirft die Autorin ihre breit angelegte Geschichte. Dabei wird es auf den beinahe 600 Seiten niemals langweilig. Dafür sorgen auch zahlreiche, gut eingebaute Cliffhänger.
Wir erfahren von der aufwendigen Suchaktion nach dem Mädchen, bei der sich wieder wie damals Menschen aus der ganzen Gegend beteiligen. Und wir verfolgen die Ermittlungen der Polizei, die bald einige Verdächtige aufweisen kann.
Doch Liz Moore belässt es nicht bei den Geschehnissen rund um Barbaras Verschwinden, sondern geht zurück in die Vergangenheit der Familie. In den Sommer 1961, als der Erstgeborene auf mysteriöse Weise in den Wald ging und nie zurückkehrte. Und noch weiter zurück in die Jahre, als sich die Eltern der beiden Kinder kennenlernten.
Dabei nimmt die Autorin die Perspektiven wechselnder Figuren ein. Das ergibt ein vielstimmiges Bild der Geschehnisse und der darin verstrickten Personen.
Der Leser findet sich aber gut zurecht in diesem multiperspektivischen und auf verschiedenen Zeitebenen spielenden Erzählen. Dafür sorgen ein Zeitstrahl und eine Namensangabe über den einzelnen Kapiteln.
Außerdem lässt sich die Autorin Zeit, ihre Geschichte zu entwickeln. Viele der Figuren, auch Nebenfiguren, bekommen eine Biographie, so dass jeder Charakter unverwechselbar und glaubhaft wird.
Dabei beleuchtet sie sehr genau die Unterschiede zwischen den Klassen und den Geschlechtern. Da sind auf der einen Seite die Reichen, die Van Laars und ihre Freunde, die bestimmend und selbstherrlich agieren. Sie haben die Macht und das Geld und die nötigen Beziehungen und scheuen sich nicht, dies für ihre Zwecke einzusetzen. Während die weniger Privilegierten schauen müssen, wo sie bleiben.
Dass die Rolle der Frau in jenen Jahren, in den frühen Sechziger bis weit in die Siebziger Jahre des letzen Jahrhunderts, eine andere war als heute, wird an einigen Beispielen gezeigt. So steht Alice, die Mutter der beiden Kinder, ganz im Schatten ihres dominanten Mannes und Judyta hat als erste State Troopers der USA einen schweren Stand bei ihren männlichen Polizeikollegen. Aber diese schafft es, sich nicht nur aus dem Einfluss ihrer konservativen Familie zu befreien, sondern auch allen zu beweisen, was in ihr steckt.
Einen Roman mit dieser komplexen Struktur sicher über die Ziellinie zu bringen ist nicht leicht. Doch die Autorin hält souverän alle Fäden in der Hand und die Spannung bis zum Schluss.
Aber auch der Schauplatz des Romans trägt zum Lesevergnügen bei. Mit ihrer bildhaften Sprache hat Liz Moore die Atmosphäre dieser urwüchsigen Gegend in den Adirondack Mountains wunderbar eingefangen, ebenso die Stimmung im Camp, zwischen Abenteuer und Lagerfeuer.
So ist „ Der Gott des Waldes“ ein fesselnder Unterhaltungsroman, der zugleich Krimi, Familiengeschichte und Gesellschaftsporträt ist.