in einem Satz durchgelesen

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„Hunger der Lebenden“ von Beate Sauer


Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld

Der Krimi „Hunger der Lebenden“ von Beate Sauer spielt im Sommer 1948 in Köln und Umgebung. Die junge Ostpreußin Frederike Matthée ist inzwischen etabliert bei der weiblichen Polizei.
Im Sommer 1948 wird eine ehemalige Kollegin ihrer Vorgesetzten ermordet. Frederike wird dem polizeilichen Ermittler zugewiesen.
Das Bild, das sich über die Tote ergibt, ist zweideutig. Die meisten ehemaligen Kollegen und ihre Angestellten sind voll des Lobes und zunächst kann sich keiner erklären, warum gerade diese Frau, die so schön und freundlich war, so brutal ermordet wurde.
Andererseits findet Frederike heraus, dass die Ermordete unter den Nazis Karriere gemacht hat und während der Nazizeit verantwortlich für die Einweisung von jungen Mädchen in sogenannte „Polizeiliche Schutzlager“ war. Dort wurden die Mädchen misshandelt und viele kamen um. Im Laufe der Ermittlungen stößt sie auf Elli, die als einzige ein Massaker überlebt. Elli ist Augenzeugin eines Kriegsverbrechens, in dem ein deutscher Wehrmachtsoffizier den Befehl gab, ein ganzes Dorf auszulöschen
Frederike muss sich in diesem Fall auch mit ihrer eigenen und der Haltung ihrer Familie zu den Nazis und den im Krieg begangenen Gräueltaten auseinandersetzen. Die allseits bekannte Haltung „Wir wussten von nichts“ muss von ihr hinterfragt werden. Die Beziehung zu Richard Davis gerät dadurch auch in Gefahr
Richard Davis ermittelt parallel in einem Fall von drei ermordeten britischen Piloten. Davis, der sich zu Frederike hingezogen fühlt, kämpft einerseits mit seinem Hass auf alles „Deutsche“ und seiner starken Zuneigung zu Frederike.
Hinzu kommt Frederikes Sorge um ihren im Krieg verschollenen Bruder, der vielleicht nicht ganz so unbescholten war, wie Frederike dachte.
Die Gefühle von Richard und Frederike werden in diesem zweiten Band auf eine harte Probe gestellt, denn Richard muss sich klar werden, ob er eine der verhassten Deutschen, die alle in seinen Augen für den Tod seiner Familie verantwortlich sind, lieben kann. Während Frederike sich darüber klar wird, dass sie und ihre Familie nicht ganz so unschuldig sind, wie sie dachte.

Ich habe den Krimi in einem Zug durchgelesen. Die Beschreibung der Situation um 1948 in Deutschland und die akute „Wir-haben-von-nichts-gewusst“-eritis, ebenso wie das Problem, dass viele Mitläufer und ehemalige Nazis sich schon wieder in Positionen befanden, in denen sie Macht ausübten und somit auch die Zukunft des Landes mitgestalteten, in dem ich heute lebe war stimmig und auch beklemmend für mich.
Einige der Dinge, die in Bezug auf die „Polizeilichen Schutzlager“ und die Art und Weise, wie dort mit Jugendlichen verfahren wurde, kannte ich aus den Erzählungen meiner Eltern, die zwar in den 1930ern zu jung waren, um mit so etwas in Kontakt zu kommen, aber in den Nachkriegsjahren teilweise in Kinderheimen unterkamen, die von ehemaligen Nazis geführt wurden und mir ähnliches erzählt haben.
Ich habe Beate Sauers zweiten Krimi sehr gerne gelesen. Er hat den Zwiespalt der „unbescholtenen“ Besiegten und deren teilweise moralische Hilflosigkeit gut herausgearbeitet, wenn sie mit den im Krieg begangenen Gräueltaten konfrontiert wurden und erkennen mussten, dass, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar mit den Nazis oder den Kriegsverbrechen oder den Judenverfolgungen zu tun hatten, eventuell doch nahe Freunde und Verwandte nicht ganz so unschuldig waren wie, gedacht. Leider haben viele diese Erkenntnis von sich geschoben.
Das Buch ist sicher keine leichte Kost, aber ich kann es nur empfehlen. Hier werden viele Themen angesprochen, die auch heute noch Auswirkungen haben.