Schöntraurig? Traurigschön? Beides und viel mehr.

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„Kinder bleiben Kinder, solang die Eltern noch am Leben sind. Was sind sie danach? (S.139)

An welchem Ort spielt diese Geschichte? Zu welcher Zeit? „Wo auch immer“, „wann auch immer“ würde der wortkarge Vater im Refrain seines Schweigens sagen. Vielleicht in den 1960ern, vielleicht im Osten Deutschlands. Tausende Menschen auf der Flucht, die das Land verlassen, über Zäune und Mauern springen, durch Flüsse und Meere schwimmen. Auch Familie Roleder ist gewissermaßen auf der Flucht. Aus welchen Gründen? Warum auch immer.
Es ist etwas geschehen, was der 10-jährige Hans nicht wissen darf.

Erwartungsvoll steht der sensible Junge mit seinen Eltern an einem bitterkalten Tag kurz vor Weihnachten an der Reede und wartet auf den Schiffer mit seinem Kahn, der sie auf die einsame Insel bringen soll. Es ist nicht viel, was die Familie besitzt. Ein paar Stühle, eine Matratze, ein Schaukelpferd, ein paar Bretter und ein Rost für ein Bett, wenige Säcke und Kisten.
Hans weiß nicht viel, doch was er weiß: heute beginnt sein Leben, er wird dorthin reisen, wo er hingehört. Was er auch weiß: er liebt seine Eltern mehr als sie ihn. Sprachlosigkeit und emotionale Kälte haben sich in ihren Seelen eingenistet. Doch der sensible Junge ist genügsam, er hält das aus; stets in der Hoffnung, dass seine Eltern froh werden, er ihnen ein kleines Lächeln entlocken kann.

Hans ist glücklich auf der Insel, fühlt sich wie ein König, endlich ist er frei. Trotz der Entbehrungen, der Einsamkeit, der zahlreichen verendeten Schafe, die sie bei der Ankunft erwarten. Doch auf der Insel darf Hans er selbst sein, nicht er vergisst die Zeit, sie vergisst ihn. Endlich weg vom Nachbarsjungen Manne, der ihm das Leben mit seinen Schikanen schwer machte. Nur Kalle, seinen besten und einzigen Freund, den vermisst Hans schon. Fünf Hunde hat er sich gewünscht, einen wird er endlich bekommen. Doch Glück ist flüchtig, währt für Hans nur ein Jahr – denn die Schulpflicht ruft und manche Menschen sieht man leider zwei- oder mehrfach im Leben. „Inseljunge, Schafhirt, Fischkopf, Zwerg“ (S.100) und Schläge über Schläge. Hans wird sich erneut vor Manne verstecken müssen, in seiner geheimen Bucht. Doch der Schuldirektor spürt ihn auf und bringt ihn in die „Burg“ – eine Anstalt für scheinbar schwer erziehbare Jugendliche. Sieben Jahre voller Demütigungen, schwerer körperlicher Arbeit im Moor, Magenknurren, Misshandlungen und Gewalt. Wird Hans seine Eltern, seinen treuen Hund Bull und seine geliebte Insel jemals wiedersehen? Hat Hans wirklich existiert oder ist er nur eine Legende?

Für mich entpuppte sich „Der Inselmann“ als unerwartetes Highlight. Ein atmosphärischer Kurzroman der leisen und unaufgeregten Töne, voller sprachlicher Poesie, Melancholie, Tristesse, Zärtlichkeit und einem wunderschönen Nature-Writing. Ein Roman, der von dem Ungesagten, den versteckten Anspielungen und Botschaften lebt, unterschiedliche Interpretationsebenen eröffnet. Eine Rückkehr zum Anfang, konzentrische Kreise ziehend. Mit Hans als Figur, die zum Fühlen und Erkennen mit dem Herzen all demgegenüber einlädt, was für den Verstand nicht offensichtlich ist. Ist diese Geschichte nun schön oder traurig? Oder beides? Schöntraurig? Traurigschön? Das gilt es selbst zu erlesen.