Schienen des Schicksals

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Preußen, Berlin, München, Paris – nicht nur diese Stationen und Regionen sowie ihre Völker soll die Eisenbahn Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts verbinden. Doch wird das neue Fortbewegungsmittel auch vom Militär entdeckt. Genauso wie die Schienen das Territorium Deutschlands und Frankreichs durchziehen und kreuzen, so verbinden sich immer wieder die Schicksale Alvin von Briests, Paul Baermanns, Lousie Ferrands, Otto von Bismarcks und weiterer, dem Leser lieb werdende Charaktere sowie solche, die das Leben nicht zu ihrem Vorteil verändert, ebenso Schurken und Halunken, die ihrem Naturell zeitlebens treu bleiben. Kriege spielen eine Rolle, die Entstehung des deutschen Reichs, Bündnisse und Animositäten zwischen Deutschland und Frankreich, Freundschaft und Liebe, die länderübergreifend und vorurteilsfrei ist. Glück, Karriere und Scheitern, dies stellt der Autor Richard Dübell auf stolzen 1032 Seiten spannend, emotional, liebevoll erzählt und gut recherchiert in 4 Büchern von unterschiedlicher Länge über die Jahre 1840 bis 1871 dar.
Alvin von Briest wird als zweitältester Sohn eines preußischen Junkers um sein Erbteil betrogen, jedoch trifft er wenige Tage nach der Beerdigung des Vaters und nachdem der Bruder ihm klar gemacht hat, Gut Briest und das zweite Familiengut tatsächlich beide übernehmen und bewirtschaften zu wollen, auf den jungen Junker Otto von Bismarck, der Alvin geschickt und schlitzohrig, aber auch zum eigenen Vorteil, zum Helden für einen Tag werden lässt und ihm den guten Rat gibt, eine Karriere beim Militär einzuschlagen. So findet sich Alvin schließlich in Berlin in einer Kaserne wieder, um sein Glück zu machen. Zur gleichen Zeit erfährt Louise Ferrand, eigentlich Tochter aus gutem Hause aber nach dem Selbstmord des Vaters und dem Verlust des Hauses an Gläubiger, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Denn der verheiratete Geliebte ihrer Mutter verlässt sie, um weiter Karriere machen zu können. Schließlich finden sich die beiden Frauen in einem üblen Viertel in Paris wieder und Louise geht dem Charmeur und selbst ernannten Journalisten Pierre Charrier auf den Leim. In Nürnberg indes stolpert der hoffnungsvolle Münchner Paul Baermann auf dem Weg in die Lehre bei einem englischen Lokomotivhersteller auf seinem Karriereweg über einen Schornstein der von ihm heiß geliebten Stahlrösser und muss, da das was er sich gespart und was die Eltern als Kredit für seine Ausbildung aufgenommen haben, für die Reparatur der „Adler“-Lok hergeben. Auf der Suche nach Arbeit strandet er in Berlin und zieht sich, ohne es zu wissen, den Zorn seiner älteren Schwester Lily, die sich durch den Verlust des Geldes um ihr Erbe und Mitgift betrogen fühlt, zu. Sein Glück, denn bei einer Kneipenschlägerei, die mehr oder weniger ausgelöst wird durch seine Verteidung eines Franzosen, lernt er nicht nur Stéphane Flachat kennen, der sich gemeinsam mit seinem Bruder mit dem französischen Schienennetz beschäftigt, sondern auch den als Soldat mutig in die Schlägerei einschreitenden Alvin Briest und den Polizisten Bronikowski. Als Freunde und dann quasi Arbeitskollegen folgen Alvin, Paul und „Broni“ Stéphane nach Frankreich und arbeiten für die Flachat’sche Eisenbahngesellschaft. In Paris treffen sie auf die intelligente und schöne Louise, die sie aus den Fängen von Charrier befreien können. Sowohl Alvin als auch Paul sind sofort Feuer und Flamme für die junge Frau – und Louise verliebt sich in den preußisch-korrekten und liebevollen Alvin, aber auch in den breitschultrigen, leidenschaftlichen Paul. Ihr Leben lang kann sie sich nicht wirklich entscheiden, liebt jeden für seine Eigenheiten. Als die drei Deutschen gezwungen sind nach Deutschland zurückzukehren, folgt Louise Alvin auf das Gut seins Bruders und seiner Schwägerin, heiratet ihn dort. In Jerichow auf der Hochzeit lernt Lily, die nach dem Tod der Eltern und der Pfändung des Hofs in München aufgrund Pauls Schulden, von ihrem Bruder abhängig ist, was ihren Hass umso tiefer werden lässt, Otto von Bismarck kennen. Beide sind auf der Stelle voneinander begeistert, passen mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrem eisernen Willen Dinge zu erreichen hervorragend zusammen. Jedoch heiratet Otto Lily nicht, entsorgt die Geliebte als er sich für eine andere Ehefrau entscheidet. Lilys Herz verhärtet sich mehr und mehr. Die Tage als Kinderfrau des kleinen Moritz von Briest erträgt sie in Berlin, doch als dort die Arbeiteraufstände toben sieht sie eine Chance und lebt fortan nur noch von ihrer Rache an Otto von Bismarck. In diesen Tagen begreift Paul, dass seine Vision von einem durch Schienen verbundenen Europa auf Kosten der Arbeiterschaft erfolgt, durch die vielen verschiedenen deutschen Völker recht egoistisch verwaltet wird und Züge eben auch genutzt werden, um Soldaten und Waffen zu transportieren. Alvin, der nach dem gewaltsamen Tod an Bruder und Schwägerin Briest ein zweites Mal durch einen Betrug verliert, hat hin und wieder Zusammenkünfte mit Otto von Bismarck, der den Freund geschickt für seine politischen Karriereschritte vom Landrat zum Ministerpräsident, Bundes- und schließlich Reichskanzler auf dem militärischen und privaten Schachfeld hin und her bewegt. Meist ist es nicht Alvins Schaden, wenn Bismarck ihn mehr oder weniger durchsichtig auf Mission schickt, doch hin und wieder fühlt sich von Briest benutzt. Die Dreiecksbeziehung zwischen Paul, Louise und Alvin überdauert die Jahre, und trotz allem überlebt die Freundschaft der beiden Männer. In der Zwischenzeit hat sich Lily, verbittert und von Rache getrieben, in Paris der Bande von Louises Peiniger angeschlossen, wird nach Pierres Tod sogar Chefin seines Gaunerrings und bringt das dunkle Geschäft zum Blühen. Sie träumt von einem Attentat, das ihr schließlich Dynamit, das ihr Bruder Paul von Alfred Nobel persönlich präsentiert bekommt und das er zum Bau von Schienentrassen entdeckt, liefern soll. Der junge Moritz von Briest, begeisterter Ingenieur des Telegraphenwesens, mittlerweile selbst Ehemann und junger Vater, tritt in die Fußstapfen seines Vaters, dessen Freunde und seiner tapferen Mutter, die die Tätigkeit als Delegierte des Deutschen Roten Kreuzes tapfer über Pleiten, Schmach und Franzosen-Feindlichkeit hindurch erkämpft hat, und beweist ebenso Mut und persönliche Stärke wenn es um die erweiterte Familie geht. Sei es im Krieg oder im Kampf gegen Unrecht, Gauner, politisches Taktieren, die diesen Personenkreis gefährden. Wird es Frieden in und zwischen Deutschland und Frankreich geben? Werden alle Protagonisten ihren Frieden finden? Wird die Eisenbahn Europa verbinden oder befremden? Eine wunderbare Zeitreise in die Geschichte, erzählt durch die persönlichen Schicksale interessanter, teilweise fiktiver, teilweise realer Charaktere. Ein Buch, dass man zum Genuss und mit viel Zeit und Muße lesen sollte, damit man all seine Facetten erfassen kann.