Deutschlands Aufbruch in die Moderne

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Die Jahrhunderttrilogie von Richard Dübell stellt in diesem Buch die nächste Generation der Hauptakteure aus „Der Jahrhundertsturm“ vor. Es schließt 50 Jahre nach den Ereignissen an. Leider bekommen Paul Baermann und seine Frau Louise hier lediglich am Anfang eine unglückselige Rolle, stellen damit aber die Weichen für einen spannungsgeladenen Handlungsstrang. Der Privatdetektiv Edgar Trönicke muss nun den wahren Hergang des Zugunglücks in Münchenstein ermitteln. Dabei gibt Dübell Einblicke in eine Welt voller Intrigen und Erpressung. Bis es zum Unfall kommt, wird der Leser mit einer bildhaften Ausdrucksweise um Schienenführung und Fliehkräfte vorbereitet. Wie in Zeitlupe schweben die Kohleteile vorm inneren Auge vorbei und lassen erahnen, dass Paul nicht mehr zu retten ist. Der Vorfall und der Kontakt zu Trönicke wecken bei Otto von Briest den Wunsch, ebenfalls Detektiv zu werden.

Paul und Louises Sohn Moritz ist inzwischen mit Antonie verheiratet. Sie haben drei gemeinsame Kinder, die sich mit unterschiedlichen Dingen beschäftigen, die zur Jahrhundertwende Geschichte schrieben. Moritz ist Direktor bei Siemens und Halske und wird sogar für einige Zeit nach Chicago geschickt, um dort eine Zweigstelle aufzubauen. Sein Sohn Otto begleitet ihn für einige Zeit, um sein gebrochenes Herz zu heilen. Ottos Bruder Levins Leidenschaft gilt dem Fliegen. Der Hauptteil des Buches beschreibt die Geschichte der unterschiedlichen Flugkörper wie Fesselballons und Luftschiffe, Gleitschirme oder Luftschiffe. Die von Briests kommen so in Kontakt mit den historisch belegten Charakteren wie Graf von Zeppelin, Otto Lilienthal oder den Gebrüder Wright. Die Erfindungen, die heute allgegenwärtig sind und damals einen enormen Fortschritt bedeuteten, vermitteln dem Roman Authentizität.

Es werden aber auch immer wieder gesellschaftliche Themen angesprochen und dabei ein detailgenaues Portrait gezeichnet. Tochter Amalie, deren Freundin Emma und auch Ottos spätere Frau Hermine bilden Beispiele, wie die Zeit ihre Veränderung verlangte. Die ersten Frauenrechtsbewegungen entstanden, die mehr forderten als Kochen und Sittenlehre. Zeitgeschehen wird stets mit einer emotionalen oder mitreißenden Geschichte kombiniert. Die Erzählperspektiven wechseln von Thema zu Thema und geben so einen umfassenden Überblick. Gegliedert ist der Roman in fünf Bücher, die sich jeweils einem Hauptthema der Jahre zwischen 1891 und 1909 widmen. Verbunden sind alle durch die Familie von Briest. Eine Karte von Berlin im Umschlag sowie ein Nachwort mit Quellenangabe der Sekundärliteratur runden die Ausgabe ab.

Die ausdrucksstarke Kunst beim Erzählen lässt die einmal begonnen Romane nicht mehr aus der Hand legen. Gerade diese Jahrhunderttrilogie, die mit dem ersten Reichskanzler Bismarck ihren Anfang nahm, gehört zu den Büchern, die eigentlich niemals enden sollten. Die bereits im ersten Kapitel angedeutete Verschwörung ist ein Garant für Spannung und Intrige vor einer historisch exakt recherchierten Kulisse. Das Nachwort verdeutlicht die umfassende Recherche für diese Jahrhunderttrilogie. Die Umbruchstimmung der Jahrhundertwende mit der immer weiter fortschreitenden Technik und Industrialisierung ist allein schon Spannung genug, was durch die Traditionen im Kaiserreich allerdings gebremst wird. Nicht nur die Technik bei der Luftfahrt wird explizit für die Handlung verwendet, sondern vor allem auch die Kleinigkeiten wie Postleitzahlen, gängige Frisuren und Redewendungen. Die Umgangssprache der Rebellen und Schieber in den Hinterhöfen Berlins vermittelt sparsam eingesetzt ebenfalls Flair.

Kenntnis des bereits erwähnten Vorgängers „Der Jahrhundertsturm“ ist nicht zwingend erforderlich, um dieses Buch zu verstehen. Wer ihn bereits gelesen hat, trifft ein paar alte Bekannte wieder. Die Handlung des zweiten Bandes ist jedoch so gestaltet, dass man ihn auch als eigenständiges Buch lesen kann. Um den Lesespaß zu erhöhen, bietet sich die Einhaltung der chronologischen Reihenfolge natürlich an, die mit dem Kurzroman „Der Wintersturm“ noch verlängert werden kann. Mit so vielen positiven Punkten bekommt dieser historische Roman eine unbedingte Leseempfehlung.