Irische Erzählkunst vom Feinsten
„ Wir waren ein zäher Menschenschlag, geformt vom Leben mit dem Atlantik. Ein paar Tausend Männer, Frauen und Kinder, die sich an die Küste klammerten und versuchten, trocken zu bleiben. Unsere Stadt war nicht einfach nur eine Stadt, sie war eine Notwendigkeit und ein Schicksal.“
Der irische Autor Garrett Carr wählt eine ungewöhnliche Erzählperspektive für seinen Debutroman „ Der Junge aus dem Meer“. Die Wir- Perspektive bezieht den Leser mit ein und lässt ihn selbst zu einem Beobachter der Geschehnisse werden.
Schauplatz ist eine kleine Stadt an der Westküste Irlands. Hier wird eines Tages im Jahr 1973 ein Baby in einem halben Fass am Strand gefunden. Der ganze Ort ist fasziniert von diesem mysteriösen Fund, diesem „ Geschenk aus dem Meer“. Und so sind alle dankbar, als sich der Fischer Ambrose und seine Frau Christine des Kindes annehmen. Sie adoptieren den kleinen Jungen und geben ihm den Namen Brendan. Das Ehepaar hat schon einen Sohn, den zweijährigen Declan, und der reagiert höchst ungehalten mit einem „ Warum“ auf den Eindringling. Für ihn ist das Baby ein Störfaktor, der schleunigst wieder verschwinden soll. Und an dieser Haltung wird er sehr lange festhalten.
Auch zwischen Christine und ihrer unverheirateten Schwester Phyllis gibt es Reibereien. Die ältere Schwester fühlt sich benachteiligt, weil sie sich um den knurrigen alten Vater kümmern muss und kritisiert gerne an Christine herum.
Die Jahre gehen vorüber. Declan verfolgt eifersüchtig die Entwicklung seines jüngeren Bruders; beide gehen, älter geworden, getrennte Wege. Und Ambrose und seine Frau werden von Geldsorgen geplagt. Mit seinem kleinen Boot ist Ambrose bald nicht mehr konkurrenzfähig und muss immer weiter aufs Meer hinausfahren, um überhaupt noch einen Fang zu machen.
Zwanzig Jahre begleiten wir nun das Leben dieser Familie. Im Zentrum steht dabei die Rivalität der beiden Brüder und ihr Kampf um die Liebe des Vaters.
Gleichzeitig werden wir aber auch Zeugen der gesellschaftlichen Entwicklung im Ort. Die meisten Einwohner leben vom Meer; sie heuern entweder auf einem Fischkutter an, finden Arbeit in der Fischfabrik oder transportieren mit Lastwagen den Fang durchs Land. Die Arbeit ist hart und gefährlich, doch die meisten haben ihr Auskommen. Aber nun mit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU, im Jahr 1973 ändert sich vieles. Während die irischen Bauern unbedingt in die EWG eintreten wollen, möchten die irischen Fischer ihre Gewässer auf keinen Fall mit anderen teilen. Unter den neuen Bedingungen gibt es bald keinen Platz mehr für kleine Fischer wie Ambrose. Und Ambrose muss einen Weg finden, wie er weiter für seine Familie sorgen kann. „ In Ambroses Jugend hatte Geldmangel noch ausgesehen wie in den Geschichtsbüchern: Arme Leute hatten damals keine Elektrizität, kein Bankkonto, keine Zähne, aber sie hatten auch keine Schulden, sie lebten jenseits des Geldes, …, unterstützt von Verwandten und der Gemeinschaft. Aber solche armen Leute gab es nicht mehr; alle hatten jetzt Geld, nur eben nicht genug. Geldmangel war zu etwas Bösartigem geworden,…Er machte sich im Kopf breit und ließ einen keine Ruhe,…Und es war fast unmöglich, darüber zu sprechen.“
Der Autor erzählt mit sehr viel Wärme und Humor eine sehr irische Geschichte. Es ist ein besonderer Menschenschlag, der hier lebt, geprägt von der kargen Landschaft und der Unberechenbarkeit des Meeres. „ Generation um Generation von Horizontbeobachtern, die lieber in eine wortlose Unermesslichkeit blickten als auch nur eine Sekunde lang in ihr Inneres.“ Einerseits wortkarg, andererseits immer für eine gute Geschichte zu haben. Und über allem das verbindende „ Wir“ , einer Gemeinschaft, die Anteil nimmt und zusammenhält.
„ Der Junge aus dem Meer“ ist ein wunderbarer Roman mit unverwechselbaren Figuren, voller Atmosphäre und unverhoffter Wendungen, sprachlich auf hohem Niveau. Es ist zu wünschen, dass der Autor seinem Debut noch viele Bücher folgen lässt.