Am amerikanischen Traum gescheitert

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anne_kaffeekanne Avatar

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Ehrlicherweise hätte ich dieses Buch ohne meinen Lesekreis nicht gelesen. Der Klappentext klang zu deprimierend. Wie gut, dass ich mich habe überzeugen lassen!

Protagonist ist Hai, der mit seinen Eltern aus Vietnam in die USA kam. Anstatt den gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen, wie es sich seine inzwischen alleinerziehende Mutter erhofft hatte, scheitert er am Studium und flüchtet sich in die Medikamentenabhängigkeit. Als er Selbstmord begehen will, hält ihn Grazina, eine aus Litauen stammende, ältere Dame auf. Sie bietet ihm an, bei ihr zu wohnen, wenn er sich im Gegenzug um sie kümmert. Hai nimmt das Angebot an, kümmert sich um Grazina, die sich mit der Zeit immer mehr in ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg verliert, und arbeitet in einem Fast-Food-Restaurant.
Die Geschichte, die Ocean Vuong erzählt, ist zwar traurig, aber er schafft es trotzdem, auch leichte, humorvolle Momente einzubauen. Die Hauptpersonen sind allesamt Verlierer, die hoffen, ihr Leben verbessern zu können, aber meist scheitern. Trotzdem (oder gerade deswegen) unterstützen sie sich gegenseitig, so gut sie können, und flüchten sich in mehr oder weniger bewusst konstruierte Traumwelten.
Der Autor lässt viel von seinen eigenen Erfahrungen einfließen, was die Geschichte noch eindringlicher macht und sie sehr realitätsnah wirken lässt. Die Erzählweise ist episodenhaft, vieles wird sehr subtil eingewoben (wie die Queerness des Protagonisten) oder der Interpretation der Lesenden überlassen. Der Ausweglosigkeit des Schicksals der Protagonist:innen wird eine poetische Beschreibung der Natur und der heruntergekommenen Stadt Gladness (übersetzt "Freude", hier geht in der Übersetzung des Titels der Bezug leider verloren) entgegengesetzt. Auf der Handlungsebene passiert über weite Strecken nicht viel, was es zeitweise etwas mühsam macht. Ein paar Kriegsflashbacks weniger hätten meiner Meinung nach nicht geschadet.
Trotzdem gebe ich volle Punktzahl, da mich die Erzählung sehr berührt hat und ich es beeindruckend fand, wie der Autor Poesie und auswegslosen Realismus verbindet. Eine absolut lesenswerte, empathisch beobachtete Geschichte über die Verlierer, die nie den amerikanischen Traum leben werden.