Sommer wie Winter...

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aennie Avatar

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Berlin, 1977.
Sebastian 'Bastian' Winter erliegt dem alternativen Charme der geteilten Stadt und kommt in der Folge gleich mehrfach wie die Jungfrau zum Kinde zu einer renovierungsbedürftigen Villa auf dem Kreuzberger Kiez, zu einem Mitbewohner namens Jerome und zu einem neuen Job als Tontechniker in Jeromes neu begründeter Band "Klarstein".
Jerome zieht in Bastians Haus ein, und damit in sein Leben, mit dem klaren Plan, weitere Bandmitglieder zu finden, dieser Band ein Profil zu verpassen und erfolgreich zu werden. Jeromes Pläne gehen auf, nach kurzer Zeit ziehen auch Gitarrist Sven, Bassist Herb und Schlagzeugerin Zed ein und "Klarsteins" Geschichte beginnt.
Jerome ist nicht der kreative, (diese Rolle obliegt Sven, weitgehend im Verborgenen, wie sich später herausstellt), aber der charismatische Kopf der Band. Seiner Art kann sich offensichtlich nur schwer jemand entziehen. Er hat so klare Vorstellungen seiner Zukunft, dass er diese auch gegen (schnell verstummende) Widerstände der anderen durchsetzt und der Erfolg gibt ihm Recht. Er hat diese besondere Bühnenpräsenz, er hat die exakte Vorstellung, wie eine Aufnahme klingen muss, und er bekommt Zed, natürlich. In die auch alle anderen verliebt sind, natürlich.
Vier Jahre lang erzielt Klarstein beachtliche Erfolge in der Musikszene, tourt im benachbarten Ausland, doch Probleme zeichnen sich ab: Sven, anfangs "nur" mit einem Alkoholproblem belastet, landet letztendlich bei Heroin. Die Beziehung zwischen Zed und Jerome birgt Konfliktpotenzial, da sowohl Herb als auch Bastian sich nun als verschmähte Kandidaten fühlen, Sven wahrscheinlich auch, der ist nur schon zu tief im Drogensumpf. Eines Tages wird Jerome erschossen. Zed gilt als Hauptverdächtige und verschwindet. Doch hätten nicht auch andere ein Motiv gehabt?
Dies möchte nun Jule Sommer, Musikjournalistin, herausfinden. Sie reist nach Kastro, wo Winter auf dem westlichen Peloponnes seit Jahren lebt. Und er ist offensichtlich bereit zu reden.

Aus diesem Ansatzpunkt heraus entwickelt sich die Haupthandlung des Romans, die sich nun aus drei wesentlichen Komponenten zusammensetzt: direkte Erzählungen bzw. kommentierte Berichte am Schauplatz Kastro, Rückblenden auf die Geschehnisse zwischen 1977 und 1982 als eigene Kapitel und Rückblenden auf, ich nenne es mal eine etwas mysteriöse Odyssee durch Europa vor einigen Monaten, die Winter gemeinsam mit einem jungen Piloten namens Nils unternommen hat.
Hauptprotagonisten sind selbstverständlich Winter und Sommer (das werde ich im Fazit nochmal kommentieren...), aber eigentlich auch Jerome, Zed, Sven und Nils. Letztlich bleiben als relativ unbeleuchtete Nebenfiguren für mich nur Herb und Nick. Und KEINE dieser Personen ist sympathisch. Jule Sommer nicht - das augenscheinlichste für mich: die erste Journalistin, die keine Fragen stellt, keine Fragen hat. Sie will etwas herausfinden, hat sogar einen klaren Auftrag, aber: nichts. Kalt, glatt, undurchsichtig, unsympathisch. Bastian Winter ist auch nicht besser. Komischer Kauz, nicht der Typ abgehalfterter Musiker, aber auch einfach ein totaler Unsympath. Fast möchte man sagen, die beiden haben sich verdient. Jerome, ein Despot. Zed? Weiß ich gar nichts mit anzufangen. Hoch professionell, talentiert, und auch wieder wie Jule Sommer: kalt, unfassbar, glatt. Usw. usw. weitere Ausführungen sind spoilerfrei nicht möglich.

Positiv anzumerken, ist das ich die Wendung der Geschichte nicht habe kommen sehen, aber logisch finde ich sie nicht... Ich bewundere den Recherche-Erfolg gewisser Personen - und wage ihn daher etwas zu bezweifeln. Der Jutebeutel müsste schon z.B. Tagebücher enthalten haben, um diese detaillierte Konstruktion der Geschehnisse des Jahres 1981 (der Handlungsstrang "Odyssee mit Nils") zu ermöglichen. Wir wissen alle, dass heutzutage im Internet nichts mehr verschwindet. Aber doch auch, wie schwierig es ist, etwas herauszufinden, dass sich komplett vor diesem Zeitalter abgespielt hat und nicht gerade zur Weltgeschichte gehört, wenn nicht tatsächlich eine analoge Aufzeichnung existiert. In diesem Fall müsste das eine taggenaue Archivierung sämtlicher Auftritte einer mäßig bekannten Band in kleinen Bars in Europa sein. Vollkommen schleierhaft ist mir, warum Therese und ihre Tochter das wissen sollten, was sie angeblich wissen und zur Klärung der Geschichte beitragen können.

Fazit: ich bin irgendwie unentschlossen. Dass der Roman mir überhaupt nicht gefallen hat, kann ich nicht mal behaupten. Ich habe ihn sehr flott gelesen, die zweite Hälfte in einem Rutsch, also hat er mich wohl einigermaßen gefesselt. Trotzdem fand ich ihn unlogisch und nicht nachvollziehbar, einiges ist mir unklar. Den Ring und seine Bewegungen bräuchte ich bitte nochmal mit GPS-Tracker und Zeitangaben auf einem Gebäudeplan der Villa (am 'Tag der Tage')... soviel vielleicht nochmal zur Rekonstruierbarkeit.
Allesamt haben mir die handelnden Figuren nicht gut gefallen, allen voran Sommer und Winter - und dazu: was soll das? Ich glaube darüber habe ich nun schlussendlich am längsten nachgedacht. Hat die Namensgebung einen tieferen Sinn? Er erschließt sich mir weder auf den ersten, noch auf den zweiten oder dritten Blick. Ich finde keine Rückschlüsse auf die Charaktere der beiden, nicht offensichtlich und nicht über das Heranziehen von Assoziationen, die die beiden Namen erwecken könnten, auch nicht vice versa. Denn dann müsste Winter ja mehr der warmherzige, oder hitzköpfige oder fröhliche, sonnige Typ sein - ist er aber nicht. Versteh ich nicht, finde ich einfach seltsam.

Also letztendlich: bedingte Leseempfehlung, am ehesten für wen? Keine Ahnung. Vielleicht Menschen, die 1980 auch in einer Band waren oder sich in der Musikszene bewegt haben, oder in Berlin-Kreuzberg, vielleicht passt dann das Flair...