Ein gelungener Ermittlerthriller - und ein Pageturner der Extraklasse

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barbarasbuecherbox Avatar

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Sonderlich begeistert ist Naia Thulin nicht, als sie kurz vor ihrem gewünschten Wechsel von der verstaubten Mordkommission in die Abteilung für Cyber-Kriminalität zu dem Fundort einer Leiche geholt wird. Dass sie zudem noch den vom Europol abgeschobenen Kollegen Hess aufs Auge gedrückt bekommt, hilft dabei nicht besonders. Aber da es ihre letzten Tage dort sind, nimmt sie es so leicht wie möglich.
Doch der Fund der jungen Mutter – hingerichtet wie von einem Morgenstern und eine Hand amputiert – wirft mehr Fragen auf, als zunächst erwartet. Als dann bei der Leiche eine kleine Kastanienfigur gefunden wird, auf der der Fingerabdruck eines verstorbenen Mädchens festgestellt werden kann, müssen Hess und Thulin den Unwillen darüber, in der Mordkommission festzustecken, schlucken und alles geben, um den Kastanienmann zu finden. Denn wie wir Leser erwartet haben, bleibt es nicht bei einer Leiche …

Manchmal frage ich mich, woran es liegt, ob mir ein Thriller gefällt oder nicht. Leider ist meistens ja Letzteres der Fall, denn häufig ähneln sich Plot und Prämisse so enorm, dass auch der vermeintlich überraschendste Twist … ein echt alter Hut ist.
Wo mich Gone Girl absolut umgehauen hat (offener Mund – Fragezeichen im Gesicht – WTF???!?), kann ich die Thriller ala The Wife between us oder Saving Grace ohne ausgeprägtes Augenrollen kaum mehr ertragen. Denn diese Romane beinhalten fast immer eine schwache Frau, die sich von einem Mann ins Abseits drängen lässt.
Dagegen begleiten wir in Ermittlerthrillern fast immer starke, selbstständige Frauen und Männer, die alle ihre Probleme haben (sowohl Thulin als auch Hess haben schon einige unangenehme Eigenschaften), aber sich nicht dahinter verstecken. Zugegeben, in „Der Kastanienmann“ haben wir keine besonders sympathischen Protagonisten: entgegen der allgemeinen Meinung (oder Phantasie) von uns Lesern, in der alle Ermittler, Detectives oder Sergeants für ihre Arbeit leben und sterben, sind Thulin und Hess nicht begeistert davon, in der Mordkommission zu sein. Thulin hat ihre Versetzung beantragt und Hess ist nur dort, weil Europol ihn aufgrund Fehlverhaltens „freigestellt“ hat. Beide betrachten die Mordkommission als „notwendiges Übel“ – und teilweise wirkt sich das auch auf ihre Arbeit aus. Was den Leser oftmals dazu bringt, beide anschreien zu wollen – doch dadurch wirken die Figuren auch enorm real.
Natürlich gibt es auch die obligatorischen „Dumbass“- Polizisten, doch schafft Soren Sveistrup tatsächlich den Balanceakt zwischen Klischee und Glaubwürdigkeit (auch wenn er bei Dienststellenleiter vielleicht ein wenig übertrieben hat).
So hat er mit diesem Thriller ein absolut spannendes Debüt vorgelegt, das zwar vielleicht nicht perfekt ist – seien wir ehrlich, der Plot ist okay und auch sehr spannend, aber kein Mindfuck -, aber den Weg für Thulin und Hess für mich geebnet hat. Ich hoffe, die beiden noch einmal bei einem Fall begleiten zu dürfen.