Rundum gelungener, atmosphärischer Pageturner – nach der Lektüre werdet ihr Kastanien mit anderen Augen sehen!

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* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

An einem stürmischen Herbsttag wird die entstellte Leiche einer Mutter gefunden. Am Tatort wird ein Kastanienmännchen entdeckt, das dort vorher nicht wahr. Die Figur gerät zunehmend in den Fokus der Ermittlungen, als auf dem Kastanienkopf der Figur der Fingerabdruck der Tochter der Sozialministerin gefunden wird. Doch das kann eigentlich gar nicht sein, weil diese vor einem Jahr entführt und ermordet wurde – auch wenn die Leiche nie gefunden wurde. Der Fall schien gelöst, der Täter hat gestanden und sitzt in der forensischen Psychiatrie ein. Gemeinsam mit ihrem bei Europol in Ungnade gefallenen neuen Kollegen Mark Hess versucht Naia Thulin, das Rätsel zu lösen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum und Präsens
Perspektive: männliche Perspektive und weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz
Tiere im Buch: - Für TierliebhaberInnen ist dieser Thriller nicht immer leicht zu verdauen: Ratten, ein Huhn, ein Schwein und ein Hund werden getötet (teilweise auf grausame Weise), ein geschlachtetes Schwein wird zerstückelt und Fleisch wird gegessen. Zudem würde ich mir wünschen, dass AutorInnen sich informieren, bevor sie ein Tier in ihre Bücher schreiben. Dann würden wenigstens falsche Informationen und grobe Haltungsfehler wie die Einzelhaltung eines Wellensittichs (die an Tierquälerei grenzt!) nicht weiterverbreitet. Wellensittiche sind alleine sehr unglücklich, daher bitte immer mindestens zwei davon halten!

Warum dieses Buch?

Über dieses Buch hatte ich vor der Lektüre nur Gutes gehört, zudem erinnerte mich der Titel an den „Kreidemann“ von C. J. Tudor, den ich großartig fand. Der Klappentext klang ebenfalls sehr spannend!

Meine Meinung

Einstieg (4 Sterne)

Es dauerte nur wenige Kapitel – in denen ich aufgrund der Figuren noch etwas skeptisch war – bis ich ganz in die Geschichte eingetaucht war. Danach entwickelte das Buch einen unglaublichen Sog!

Schreibstil (5 Lilien ♥)

Der angemessen komplexe Schreibstil ist perfekt für einen Thriller geeignet: Ich habe ihn als sehr angenehm und flüssig wahrgenommen. Man merkt, dass Søren Sveistrup eigentlich Drehbuchautor ist. Er schreibt sehr bildlich, atmosphärisch und spannend, aber auch die Gefühle kommen nicht zu kurz. Das Buch würde sich perfekt für eine Verfilmung eignen – ich würde sie mir definitiv ansehen! Zahlreiche Dialoge machen die Geschichte noch lebendiger. Auch wenn es blutig und brutal wird, schaut der Autor nicht weg, weswegen es manchmal detaillierte Beschreibungen gibt, die für sensible Seelen nicht leicht zu ertragen sind.

Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)

„‘Kastanienmann, komm herein, Kastanienmann, komm herein. Hast du welche für mich dabei? Danke schön…‘“ E-Book, Position 1618

Mit „Der Kastanienmann“ ist dem dänischen Autor Søren Sveistrup, der unter anderem auch Drehbücher für die Serie „The Killing“ verfasst hat, ein rundum gelungener, wendungsreicher und sehr atmosphärischer Thriller geglückt, der diesen Namen auch verdient. Der Fall ist komplex und interessant, sodass es sehr viel Spaß macht, zu rätseln, wie es weitergeht und wer der Mörder oder die Mörderin sein könnte. Begeistern konnten mich (als große Liebhaberin von Beschreibungen der Polizeiarbeit) auch die detaillierten Schilderungen der Ermittlungen. Das Buch enthält zahlreiche Perspektivwechsel, denn auch Nebenfiguren kommen in entscheidenden Momenten kurz zu Wort. Obwohl ich eigentlich kein Fan von häufigen Perspektivwechseln bin, hat es mich hier nicht gestört, weil die verschiedenen Kapitel für die Geschichte notwendig waren. Zudem wird die Geschichte nicht immer linear erzählt: Das Buch enthält einige Rückblenden, die neue Informationen offenbaren.

Thematisch steht jedoch nicht nur der Fall im Vordergrund, an dessen Aufklärung Hess und Thulin mit Hochdruck arbeiten, sondern auch gesellschaftliche Missstände und Probleme, mit denen die Figuren zu kämpfen haben. Es geht um Trauer und ihre Auswirkungen auf eine Familie, um Einsamkeit, Alkoholismus, Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Søren Sveistrup kratzt hier nicht nur an der Oberfläche, sondern geht durchaus auch in die Tiefe, sodass einen die Geschichte emotional nicht kaltlässt.

Die Auflösung fand ich sehr überzeugend und auch das runde Ende, das fast offenen Fragen beantwortet, hat mir gefallen – auch wenn da noch ein kleines bisschen Luft nach oben ist. Mit einem Knall endet „Der Kastanienmann“ nämlich nicht. Lediglich die Beziehung zwischen zwei Figuren wurde nicht ganz geklärt, was mich etwas unzufrieden zurücklässt, aber das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau! Sollte es irgendwann eine Fortsetzung geben, werde ich sie auf jeden Fall lesen!

ProtagonistInnen (5 Lilien ♥) & Figuren (4 Lilien)

Sehr gut gelungen sind meiner Meinung nach die liebevoll ausgearbeiteten und authentischen ProtagonistInnen mit ihren glaubwürdigen Stärken und Schwächen. Ich habe die starke, mutige Thulin wirklich gerne begleitet, aber noch mehr in mein Herz geschlichen hat sich der sensible, scharfsinnige, etwas verloren wirkende Hess, der in der Vergangenheit einiges durchgemacht hat. Es ist schon länger her, dass ich mich beim Lesen um das Wohl der Figuren gesorgt habe und Angst um sie hatte. Beim „Kastanienmann“ ist das jedoch einige Male passiert. Das finde ich schön, denn es zeigt, dass mich die Charaktere nicht kaltgelassen haben.

Die Nebenfiguren sind ebenfalls gut gelungen, auch wenn es vereinzelt Personen gab, die etwas blass waren und noch etwas mehr Farbe vertragen hätten. Insgesamt bin ich aber auch hier sehr zufrieden.

Spannung & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„Aus den krummen Bäumen und den entlaubten Büschen im dunklen Garten kommt die Angst gekrochen und greift nach ihren nackten Beinen.“ E-Book, Position 3596

Die größte Stärke dieses Thrillers ist mit Sicherheit seine dichte Atmosphäre. Überall buntes Laub und kleine Kastanienmännchen, es ist windig, nass und kalt – man fühlt sich sofort in den Herbst versetzt und wundert sich nach stundenlangem Lesen (in Corona-Quarantäne im März) beim Blick aus dem Fenster, dass draußen die ersten Krokusse blühen. „Der Kastanienmann“ ist unvorhersehbar, wendungsreich, enthält einige unheimliche Gänsehautmomente und lässt einen regelmäßig erschaudern. Auch die Schauplätze sind teilweise echt gruselig – oder würdet ihr gerne in einem ehemaligen Schlachthof wohnen?

Durch die kurzen Kapitel (mit gelegentlichen Cliffhangern) wird das Buch zu einem temporeichen Pageturner. Auch was den Spannungsbogen betrifft, macht der Autor alles richtig, denn die vereinzelten kleineren Spannungseinbrüche in der zweiten Hälfte des Buches sind kaum der Rede wert. Ich konnte das Buch jedenfalls kaum aus der Hand legen! Eines kann ich euch jedenfalls versprechen: Nach der Lektüre werdet ihr Kastanien und besonders Kastanienmännchen für immer mit anderen Augen sehen!

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Luder, Schickse, Tusse

Es gibt nur eine Sache, die mir hier negativ aufgefallen ist: Die Szene am Beginn zwischen Naia und Sebastian grenzt für mich an Vergewaltigung – allerdings scheint es für ihn okay zu sein und da ich nicht weiß, was zwischen den beiden abgesprochen ist, möchte ich dazu nicht mehr sagen. Es gibt aber auch viele positive Aspekt, die erwähnenswert sind: Einerseits hat es mir sehr gut gefallen, dass es viele starke, mutige, gut gebildete Frauen und Frauen in Führungspositionen gibt (z. B. Sozialministerin, Anwältin, Professorin für Botanik, Thulin ist die Chefin von Hess) und dass großteils auf Rollenklischees verzichtet wird, andererseits finde ich es auch wunderbar, dass so viele Männer beim Kochen, bei der Hausarbeit und bei der Kindererziehung gezeigt werden. Eine kurze Recherche hat ergeben, dass Dänemark uns (Österreich) tatsächlich sehr weit voraus ist beim Thema Gleichberechtigung und Elterndasein: Auf das Sinken der Geburtenrate wurde mit einem Ausbau der Kinderbetreuung reagiert, zudem fühlen sich Männer stärker als in hierzulande verantwortlich für Kinder und Haushalt. Dieses Buch hat in mir den starken Wunsch geweckt, nach Dänemark auszuwandern!

Den einen oder anderen Sexisten mit unangenehmen männlichen Fantasien, der Frauen objektifiziert, gibt es im Thriller leider trotzdem, doch das verzeihe ich, da es sich ausnahmslos um unsympathische Figuren und Bösewichte handelt. Großartig fand ich hingegen, dass viele der Frauen ein aktives, lebendiges Liebesleben haben, dafür aber zu keinem Zeitpunkt kritisiert werden, es gibt also kein Slutshaming (juhu!). Zudem werden auch Sexismus, sexuelle Belästigung und Gewalt an Frauen thematisiert und kritisiert, was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat. Auch den Bechdel-Test besteht das Buch problemlos und die eher milden gegenderten Beleidigungen (Luder, Schickse, Tusse) kann ich auch problemlos verzeihen. Hätte der Autor nun noch gegendert, wäre das Buch (was diesen Aspekt betrifft) perfekt gewesen!

Ein Satz über Naia, den ich liebe:
„Sieht aus wie ein Hänfling, der von einem Windstoß umgeblasen werden kann, doch wenn man ihr in die Augen sieht, ist nicht mehr sicher, wie es mit den Kräfteverhältnissen aussieht.“ E-Book, Position 3215

Mein Fazit

Mit „Der Kastanienmann“ ist Søren Sveistrup ein rundum gelungener, wendungsreicher und sehr atmosphärischer Thriller geglückt, der diesen Namen auch verdient. Der Fall ist komplex und interessant (das Miträtseln macht unheimlich viel Spaß!), der Schreibstil sehr angenehm und bildlich (aber auch die Gefühle kommen nicht zu kurz!) und die detaillierten Schilderungen der Ermittlungen haben mich fasziniert. Thematisch stehen gesellschaftliche Missstände und persönliche Probleme wie Trauer, Missbrauch und häusliche Gewalt im Mittelpunkt. Søren Sveistrup kratzt hier nicht nur an der Oberfläche, sondern geht durchaus auch in die Tiefe, sodass einen die Geschichte auch emotional nicht kaltlässt. Auch die liebevoll ausgearbeiteten ProtagonistInnen überzeugen auf ganzer Linie – ich hatte teilweise echt Angst um sie! Besonders in mein Herz geschlichen hat sich der sensible, scharfsinnige, etwas verloren wirkende Hess, der in der Vergangenheit einiges durchgemacht hat. Positiv sind mir auch die starken, mutigen, gut gebildeten weiblichen Figuren in Führungspositionen und die im Haushalt und der Kindererziehung engagierten Männer aufgefallen – hier werden kaum Geschlechterstereotype reproduziert, was ich wunderbar finde. Die größte Stärke dieses Thrillers ist aber mit Sicherheit seine dichte Atmosphäre. Überall buntes Laub und kleine Kastanienmännchen, es ist windig, nass und kalt – man fühlt sich sofort in den Herbst versetzt und wundert sich (nach stundenlangem Lesen in Corona-Quarantäne im März) beim Blick aus dem Fenster, dass draußen die ersten Krokusse blühen. „Der Kastanienmann“ ist unvorhersehbar, enthält einige unheimliche Gänsehautmomente und lässt einen regelmäßig erschaudern. Durch die kurzen Kapitel (mit gelegentlichen Cliffhangern) wird das Buch wird zu einem temporeichen, spannenden Pageturner. Ich konnte es kaum aus der Hand legen! Ich kann euch die Geschichte nur wärmstens empfehlen – aber seid euch einer Sache bewusst, bevor ihr zu diesem Thriller greift: Nach der Lektüre werdet ihr Kastanien(männchen) für immer mit anderen Augen sehen!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 5 Lilien ♥
Figuren: 4 Lilien
Spannung: 4,5 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!