Von der Kunst, Spannung aufzubauen und auch zu halten

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Für jemanden wie mich, der sich für das skandinavische Land Norwegen interessiert – für seine raue Natur mit Bergen, tiefen Wäldern, Fjorden, einsamen Holzhütten und Polarlichtern – ist es oft nicht leicht, Romane zu finden, die dieses Ambiente literarisch verwerten. Natürlich hat Norwegen schon den ein oder anderen Schriftsteller von Rang hervorgebracht, darunter bereits drei Nobelpreisträger, aber satt fühlt man ich dadurch noch lange nicht, der Appetit wurde gerade erst angeregt. Die Romane von Knut Hamsun, allen voran sein Meisterwerk »Hunger«, sind natürlich längst Klassiker der Weltliteratur; zuletzt begeisterte mich Jon Fosses »Melancholie«, ein monumentales Werk, das genau das umsetzte, was ich mir von der norwegischen Literatur verspreche: Tiefgründigkeit, ein Hauch Wahnsinn (oder auch sehr viel), Skurrilität, eine düstere Atmosphäre, Nostalgie, die Schönheit der Natur, die gleichzeitig einen beklemmenden Schatten wirft … Ansonsten dürfte noch Karl Ove Knausgårds sechs Bände umfassender Romanzyklus Min Kamp dem ein oder anderen Leser ein Begriff sein. Das sind sie, die herausragendsten Werke der norwegischen Literatur – wer nach weiterem Lesestoff aus dem Land hoch im Norden lechzt, muss zwangsläufig zu einem Kriminalroman oder Thriller greifen, denn dieses Genre fällt den norwegischen Schreibern – man könnte bald meinen, dies sei ein wesentlicher Bestandteil der skandinavischen DNA – scheinbar besonders leicht. Zu den erfolgreichsten Krimiautoren Norwegens zählt sicherlich Jo Nesbø, der sich insbesondere mit seiner Serie um den Ermittler Harry Hole weltweit einen Namen gemacht hat. »Der König« kommt allerdings ganz ohne diesen unorthodoxen Detektiv aus, es handelt sich um ein unabhängiges Werk, bei dem es sich genauer gesagt um die Fortsetzung des Vorgängers »Ihr Königreich« handelt. In diesen beiden bisher erschienenen Bänden wird die spannende Geschichte der Brüder Roy und Carl Opgard erzählt. Die beiden sind Geschäftsleute, gemeinsam betreiben sie ein Hotel, darüber hinaus ist Roy stolzer Besitzer einer Tankstelle – doch die beiden haben größere Pläne und planen den Bau eines Freizeitparks, ein Vorhaben, für dessen Verwirklichung noch allerlei Stolpersteine aus dem Weg geschafft und (bürokratische) Hürden überwunden werden müssen. Dem Leser wird schon früh klar, dass den beiden einfach jedes Mittel Recht ist, um ans Ziel zu kommen – nicht einmal vor Mord schrecken sie zurück. Als der Druck von außen zunimmt, werden die beiden auf eine harte Probe gestellt. Doch anstatt zusammenzuhalten und sich den Herausforderungen gemeinsam zu stellen, treiben unbewältigte Konflikte aus der Vergangenheit einen Keil zwischen die beiden – bald stellt sich nur noch die Frage, wer wen zuerst zerfleischt. Denn beide wissen genau: Auf einem Thron ist immer nur für einen Herrscher Platz; es gibt nur ein Zepter, nur eine Krone – nur einer kann König sein.
Das klingt nach einer spannenden Handlung, und unterm Strich bekommt der Leser auch einiges geboten, allerdings erst nach knapp hundertfünfzig Seiten. Das erste Drittel des Romans zieht sich etwas, was natürlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass zunächst die wesentlichen Ereignisse des Vorgängerromans »Ihr Königreich« rekapituliert werden. Jedenfalls kann von Spannung zunächst keine Rede sein, vieles deutete auf einen 08/15-Krimi hin. Doch zum Glück gelingt es Jo Nesbø, das Ruder noch herumzureißen, zunehmend nimmt die Geschichte an Fahrt auf, die Konflikte werden klarer, bald kommt es Schlag auf Schlag.
Ich finde es immer wieder gewagt, einen Roman aus der Perspektive eines Antagonisten zu schreiben. Nicht dass man mich falsch versteht: Ich persönlich finde da höchst interessant; bloß lese ich immer wieder in Rezensionen, dass sich viele Leser nach einer Hauptfigur sehnen, mit der sie sich identifizieren können, sie muss ihnen sympathisch sein, alles andere wird mit negativen Bewertungen abgestraft. Dabei bietet diese Perspektive doch allerhand Potenzial für atemberaubende Spannung – die Welt stellt sich auf den Kopf, plötzlich erscheinen die Polizisten als »Bösewichte«, die Jagd auf die »Helden« machen. Bedingung dafür ist, dass der Autor es schafft, den Leser diese verkehrte Welt geschickt unterjubeln, sodass er im besten Fall gar nicht bemerkt, dass er für einen Schurken mitfiebert – und ich würde sagen, dass Jo Nesbø dies in diesem Roman auf jeden Fall gelungen ist. Freilich bedient er sich zahlreicher Klischees – so wie das vermeintlich die allermeisten Autoren dieses Genres tun –; wirklich innovativ ist dieser Plot nicht, sondern setzt sich zusammen aus verschiedenen bekannten Elementen der Kriminalliteratur; dennoch vermag »Der König« im zweiten und letzten Drittel durchaus zu überzeugen, denn der Norweger ist nicht nur in der Lage, Spannung aufzubauen, sondern – viel wichtiger – diese auch zu halten. Eine Kunst, die meiner Meinung nach heutzutage nicht viele Thrillerautoren beherrschen, hangeln bzw. mogeln sich die meisten doch vorzugsweise mit ultrakurzen Kapiteln von Cliffhanger zu Cliffhanger. Stattdessen hat Jo Nesbø die Geduld und das Kalkül, die nötigen Stränge erst einmal aufzubauen, um sie dann später nach und nach miteinander zu verweben, sodass man als Leser förmlich spürt, wie sich die Schlinge immer enger um den Hauptprotagonisten zuzieht und alles schließlich auf das große Finale zurast. Das ist sicherlich ein großer Pluspunkt dieses Thrillers. Darüber hinaus hätte man sich vielleicht etwas mehr Atmosphäre gewünscht, denn der Handlungsort Os wirkte auf mich etwas leblos; ebenso bleiben die Charaktere allesamt ziemlich blass, und der Konflikt zwischen den Brüdern hätte gerade gegen Ende ruhig noch etwas prägnanter herausgearbeitet werden können. Sei es drum: Unterm Strich erfüllt »Der König« viele Kriterien, die einen guten Kriminalroman ausmachen, insofern man hier überhaupt von einem Krimi sprechen kann – ich persönlich halte die Genre-Einordnung des Verlags in diesem Fall für irreführend; vielmehr handelt es sich doch um eine Mischung aus Polit-, Wirtschafts- und Psychothriller.