Stand by me trifft ES

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Das wird richtig krass, dachte ich. Gleich auf den ersten Seiten erfährt der Leser von einem verstümmelten Mordopfer und ich erwartete eine ziemlich heftige Geschichte. Aber so heftig wurde es dann nicht. Die Grundidee erinnert stark an den 80er Jahre Streifen „Stand by me“, gemixt mit kleinen (sehr kleinen!) Splatterelementen und einer etwas schwammigen, übersinnlichen Komponente, die an Stephen Kings ES denken lässt. Vielleicht war das ein bisschen das Problem: Es gibt von vielem Etwas, ohne dass C.J. Tudor sich in ETWAS besonders originell hervortut. Letzten Endes fehlt die Einzigartigkeit.

Die Bezeichnung Thriller weckt womöglich falsche Erwartungen. Im Mittelpunkt stehen die Erlebnisse einer Gruppe Kinder im Sommer 1986. Erzählt werden sie von Eddie und zwar abwechselnd 1986, als er zwölf war sowie 2016. Da ist Eddie ein erwachsener Mann Anfang 40 und erhält Besuch von seinem alten Kumpel Mickey, der ein Buch schreiben will und damit die Geister der Vergangenheit heraufbeschwört. Das alles liest sich ruhig, streckenweise fast gemütlich.

Der titelgebende Kreidemann taucht eher am Rande auf. Ich hatte mit der klassischen Mordserie und obligaten Mördersuche gerechnet. C.J. Tudor befasst sich jedoch vielmehr mit den Umständen, die zu dem Mord geführt bzw. diesen zeitlich eingerahmt haben. Dabei schafft sie in erster Linie ein gutes Gefühl für die 80er Jahre und die Lebensumstände von Ed und seiner Clique: Fat Gav, Hoppo, Metal Mickey und Nickie. Tudors Beschreibungen wirken authentisch, melancholisch, teilweise mysteriös und ein bisschen gruselig.

Ich mochte die atmosphärischen Schilderungen aus Eddies Kindheit, von seiner Clique und dem Leben in der Kleinstadt, das sich unter der Oberfläche – wie so oft – nicht ausschließlich beschaulich darstellt. Gewalt, Sadismus, geheuchelte Moral. Zwischen sommerlich-idyllischen Szenen wird die Stimmung bisweilen unangenehm, fast klaustrophobisch. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, tiefer in Eddies Erfahrungen zu versinken und dem Drang, möglichst schnell wieder aus Eddies Kaff verschwinden zu können.

Wen Ängste vor Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen plagen, dem ist das Buch nicht unbedingt zu empfehlen. Auf der Suche nach Wissen und Wahrheit spielen die Erkrankungen eine besondere Rolle. Zweifelsohne gibt es aber Romane, in denen sie vielschichtiger und geschickter in die Handlung eingebaut werden. Tudor nutzt sie als Mittel, um Ängste zu schüren. Und das nicht mal besonders subtil. Allerdings auch nicht zu aufdringlich – der Aspekt bleibt Randerscheinung und ist nett erdacht, wie so vieles an dem Buch.

Echte Sympathieträger konnte ich unter den Charakteren nicht finden. Manche Figuren sind Kotzbrocken, man muss es so sagen. Selbst zu Eddie – der einige seltsame Marotten besitzt – hatte ich immer eine gewisse Distanz. Jedoch ist er ein guter Erzähler und mit ihren abwechslungsreichen, kurzen Kapiteln und Zeitwechseln lässt sich die Geschichte leicht und schnell lesen. Leider kommt das Ende ziemlich abrupt und trashig daher und bis zuletzt integrierte sich der übersinnliche Teil nicht wirklich schlüssig, weshalb ich „Der Kreidemann“ nicht hundertprozentig zufrieden beendet habe.

Fazit: Nett! Nicht mehr, nicht weniger. Man hätte sicher mehr aus der Idee herausholen können. Trotzdem: Die ruhige Kleinstadt-Stand-by-me-Atmosphäre von 1986 ist gelungen und mir gefiel das Zusammenspiel der Charaktere. Obwohl es dem Buch an Originalität fehlt und das hektisch-übertriebene Ende nicht ganz zum Rest der Geschichte passt, hebt sie sich doch positiv von den vielen immergleichen Girl-Thrillern ab.