Der Lärm des Lebens in leisen Tönen

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toniludwig Avatar

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In der Rahmenhandlung versuchen die beiden Stuttgarter Schauspielstudenten Jörg Hartmann und Hüseyin (Michael Cirpici) Anfang der 1990er Jahre an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin auf nahezu übergriffige Weise bei der damaligen künstlerischen Leiterin Andrea Breth auf ihr eigenes Talent aufmerksam zu machen und erhalten von ihr schließlich eine schier unlösbare Hausaufgabe : Ein Vorsprechen der ersten Szene von Goethes Clavigo unter Verweis auf die legendäre Inszenierung von Fritz Kortner mit Thomas Holtzmann und Rolf Boysen, 1969 (!) am Schauspielhaus Hamburg.

Mit Einfallsreichtum gehen die beiden Freunde der Sache nach, vielleicht eine grandiose Form der Selbstüberschätzung ?

Wie die Sache ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten; gleich im nun folgenden Handlungsstrang wendet sich der Autor seinem schwer an Demenz erkrankten Vater zu.

Hartmann erzählt - und wer sich fragt, ob dies erneut sein muss - ein schreibender Schauspieler -, wird alsbald seine Vorurteile über Bord werfen können, denn Hartmann kann nicht nur Schauspiel, er kann auch schreiben.
Dabei versucht er gar nicht erst, sich hinter seiner Prominenz zu verstecken, er ist eben d e r Faber aus dem Dortmunder Tatort, wo er unter allen Ermittelnden ohnehin schon in Charakter und Darstellung eine exponierte Figur ist.

Die Eindrücklichkeit des nicht als Roman bezeichneten Textes resultiert aus den Betrachtungen der Endlichkeit unseres Lebens, exemplarisch nachspürbar durch die Krankheit des Vaters und dem immerwährenden Kreislauf, als Heranwachsender und eigener Familienvater doch wieder zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit gegenüber den eigenen Eltern aufzuwenden und Nähe zur erweiterten Familie erst wieder auf Beerdigungen zu erfahren.

Nachdenkliches auch über Themen wie Pflegenotstand, das Überleben der Großeltern in Nazideutschland und der unfassbare Rechtsruck in der heutigen Zeit, über den Mauerfall und die verschenkten Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft in der Folge, über Fluch und Segen des Berufes, der Umgang miteinander in der Pandemie und etliches mehr.
Grandios an diesem Text ist : Hartmann moralisiert nicht, er stellt sich und seine Ansichten immer wieder in Frage, hat Selbstzweifel (>>Jeder will an das glauben, was er lebt. Wir alle verdrängen die Fragen, die wehtun, die uns zwingen würden, unser Leben zu ändern.<<) und schon sich selber nicht (>>...ich westdeutsches In-Watte-Gepacktes!<<).

Aber keine Angst - das Buch ist nicht bedeutungsschwanger überfrachtet, es ist vielmehr durchzogen von einem heiteren Grundton mit unzähligen lustigen Episoden aus der eigenen Kindheit oder im Zusammensein mit seinen eigenen Kindern.
>>Durch die Kindheit seiner Kinder erlebt man wieder die eigene. Und sieht in seinen Eltern die eigene Zukunft.<<
Die von seinem Vater mitgegebene Lebenskunst, Gefühle zuzulassen und zu zeigen, ermöglichte das Schreiben dieses Textes und ist ein grosses Geschenk an die Leser.

Dies hat auch der Rowohlt Verlag Berlin erkannt, der das kleine Büchlein fein mit einem Lesebändchen ausgestattet hat.