Zwischen Bleiben und Gehen

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Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung von Gustav Mahlers letzter Reise liest sich gewandt und gefällig. Was also hat mich so gestört, das ich mit dieser Rezension fast zwei Wochen schwanger gehen musste? es hat wohl mit diesem Satz zu tun: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ (S. 65)

Seethaler schreibt nicht über Musik, sondern über einen Komponisten und Dirigenten. Das macht er sehr gut, es finden sich alle wichtigen Stationen aus Mahlers Leben auf den 120 Seiten - ganz plastisch erscheint das Gerüst dieser außergewöhnlichen Vita, wenn ich sie mit dem zu Rate gezogenen Wikipedia-Artikel vergleiche. Aber Seethaler schreibt nicht - oder nur kaum – über die Musik. Welchen Sinn ergibt es, über einen Musiker zu schreiben, wenn man so wenig über die Musik erfährt? Immerhin, und das sind die m.E. stärksten Passagen, kreist der innere Monolog des moribunden Musikers um das Komponieren. Woher kommt die Musik? Was sieht Mahler, das uns ihn hören macht? Eindrücklich über Mahlers innige Musikwerdung durch die Wahrnehmung sowohl des Äußeren (Vögelgezwitscher u.ä.) wie auch des inneren Genius, des autonomen Schöpfers: „Er hätte die Harmonien seines Körpers komponieren sollen. Und noch vielmehr die Disharmonien.“ (S. 114) Gemeint sind Mahlers instabile Gesundheit, der schwere Verlust der älteren Tochter und das zerrüttete Verhältnis zur viel jüngeren und von einem anderen Genius umworbenen Ehefrau Alma.

Beim Lesen sitzen wir nicht nur mit dem totgeweihten Mahler in seinem Deckstuhl auf der letzten Reise aus den USA nach Europa, gezeichnet von der Herzmuskelentzündung, an der die Ärzte in New York, Paris und Wien verzweifelten (und Mahler selbst auch, und zwar immer wieder in diesem Roman), wir sitzen auch mit ihm in seinen Komponierhäuschen. Hier destilliert Mahler die Natur in seine Musik, und Seethaler erspart uns diese klischeehaften Passagen nicht.

Klischeehaft und wie aus dem Lehrbuch zur Textgestaltung wirken allerdings auch andere Absätze: Man nehme ein Ortsdetail, eine innere Ansicht, einen Vergleich und einen synästhetischen Sinneseindruck – anlässlich des Besuchs bei Siegmund Freud auf Seite 98 klingt das so: „In einem Café tranken sie heiße Limonade mit Honig, dann machen sie einen Spaziergang entlang der Rapenburg-Gracht (Detail!). Mahler erinnerte sich (innere Ansicht!) an das das ölige, flaschengrüne (Vergleich!), unter den Brücken und im Schatten der Boote tiefschwarze Wasser. Es war mitten im Sommer, doch es roch schon nach Herbst, faulig und feucht (Synästhesie!).“ Das ist einerseits perfekt erzählt. Andererseits wirkt es auch mechanisch, lehrbuchhaft und damit platt. Überhaupt erscheint es zum Scheitern verurteilt, alle wichtigen biografischen Details Mahlers auf so wenig Seiten mehr listenartig als listenreich abzuhaken.

Abgesehen davon, dass zu wenig Musik auf diesen 120 Seiten erklingt und zu viel schwarze Galle aus der Melancholie von Mahlers umfassenden Abschied vom Leben, der Welt, der Musik und seiner Frau tropft, muss man freilich auch über den Titel des Buches nachdenken: „Der letzte Satz“.

Mahler lässt die Entstehung seiner neunten Sinfonie und die letzten drei Jahre Revue passieren lässt: Diese neunte wird - wie bei Beethoven oder Bruckner Mahlers letzte sein, mithin der vierte Satz auch Mahlers "letzter Satz". Dieser endet bemerkenswerterweise mit der Spielanweisung "ersterbend" - und genau in dieser elegischen Abschiedsstimmung trifft man lesend Mahler an Bord des Schiffes an. Ich wäre gespannt gewesen, wie Seethaler die Entstehung des letzten Satzes der 9. Sinfonie und das Ersterben Mahlers literarisch konvergieren lässt. Das passiert allerdings nicht, denn die Musik spielt in diesem Roman ja nicht die erste Geige.

Eine andere Spannung aber konstruiert Seethaler, nämlich aus dem letzten Satz, den Mahler in diesem Roman sagt, und dem letzten Satz des Roman schlechthin: „Ich sollte noch ein wenig bleiben“, sagt Mahler auf Seite 118, doch das unerbittliche Ende lautet: „Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen.“ (S. 126)

Diese Spannung zwischen Bleiben und Gehen gelingt Seethaler immerhin durch das Gegenüber von melancholischer Rückschau und Dialog mit dem jugendlichen Decksstewart, der den „Direktor“ bedient und zur interessantesten Nebenfigur wächst.

Mein letzter Satz: „Der letzte Satz“ liefert nicht mehr als der Wikipedia-Artikel zu Gustav Mahler, ist aber deutlich schöner zu lesen.