Faszinierende Kombination aus Zeitreise-Liebesgeschichte und Kriegsdrama

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alekto Avatar

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Joe Tournier, der erst 43 Jahre alt ist, verliert am Bahnhof Gare du Roi in Londres im Jahre 1898 sein Gedächtnis. Plötzlich weiß er nicht mehr, woher er kommt, was ihn an diesen Bahnhof geführt hat und wohin er unterwegs ist. So wird Joe ins Krankenhaus La Nouvelle Salpêtrière gebracht. Dort erklärt ihm sein Arzt, dass er einen Anfall gehabt habe, der eine Form von Epilepsie darstelle. Dies komme recht häufig vor und vergehe in der Regel innerhalb weniger Tage oder gar Stunden. Zur Beobachtung bleibt Joe im Krankenhaus, doch erlangt er auch innerhalb einer Woche sein Gedächtnis nicht wieder. So kann Joe sich weder an Monsieur Saint-Marie, dessen Leibeigener er seit seiner Kindheit ist, noch an seine Frau Alice erinnern. Eines Tages erhält Joe eine rätselhafte Postkarte, die den kürzlich auf den äußeren Hebriden erbauten Leuchtturm Eilean Mor abbildet. Doch die Postkarte ist schon hundert Jahre alt.

Die mysteriöse Ausgangssituation, die Natasha Pulley entwirft, stellt einen starken Einstieg in ihren Roman dar. Dass Protagonist Joe sich desorientiert am Bahnhof Gare du Roi wiederfindet, nachdem er sein Gedächtnis verloren hat, ist als schlimme Erfahrung so glaubwürdig geschildert, dass es mir gleich nahe gegangen ist. Auch die sich daran anschließende Problematik in Gestalt der sich verkomplizierenden Beziehungen, in denen Joe weder sein Herr noch seine Frau Alice bekannt ist, diese sich jedoch an ihre ganze Vergangenheit mit Joe erinnern können, wird gelungen beschrieben. Im Zeitraffer werden dann die nächsten Monate und Jahre aus Joes Leben wiedergegeben, die im ersten Teil des Buchs enthalten sind. Das hohe Erzähltempo, das sich nicht in Joes Erinnerungslücken verliert, nachdem diese Thematik zu Beginn erläutert wurde, treibt die Handlung voran.
An diesen ersten Teil schließen sich fünf weitere Teile an, die u.a. nach dem Titel gebenden Leuchtturm benannt sind und die stets den primären Handlungsort des jeweiligen Teils angeben. Im weiteren Verlauf entwickelt Pulleys Roman eine Komplexität, indem dieser auf größtenteils drei verschiedenen zeitlichen Ebenen erzählt wird und zu Joes Sichtweise gerade in den zeitlich weiter zurückliegenden Kapiteln andere Perspektiven hinzukommen. Da Pulley zwischen den Zeiten, Sichten und verschiedenen Handlungsorten wechselt, führt sie ein recht umfangreiches Figurenarsenal ein, von denen einige zumindest ein zweites Mal auftreten. Ein Personenverzeichnis hätte ich besonders im Hinblick auf die zahlreichen Nebenfiguren als hilfreich empfunden.

Pulleys ungewöhnliche Ideen führen zu besonderen Szenen, die sie so plastisch beschreibt, dass diese lebendig werden. So konnte die Autorin mir zu Beginn gleich dieses andere Londres des Jahres 1898 nahe bringen, das sie in detailverliebten Bildern eingefangen hat. Diese beginnen bei den Metro-Schildern im Bahnhof, führen an der Ruine der St.-Pauls-Kathedrale vorbei und reichen bis hin zur Darstellung von London als schwarzer Stadt. Denn Londres ist in dieser alternativen, historischen Realität für seine Stahlwerke bekannt, deren gewaltige Hochöfen nicht nur das Stadtbild dominieren, sondern auch ganz Londres einrußen. Originell fand ich auch Joes Aufenthalt in einem schottischen Kerker, da er währenddessen die Gefangenen dabei beobachtet, wie sie aus vom Boden aufgesammelten Strohhalmen kleine Kunstwerke herstellen, um sie dann zu verkaufen.
Intensiv wird der Roman, wenn dessen Handlung in ein Kriegsdrama umschlägt. Denn Joe gerät in dessen weiterem Verlauf mitten hinein in den zwischen England und Frankreich tobenden Krieg, als England seine entscheidende Niederlage kurz bevorsteht. Insbesondere die Seeschlachten werden so gewalttätig wie realistisch geschildert, was das Durchbrechen einer Blockade oder auch eine hinterrücks erfolgende, blutige Attacke mit einschließt. Die Blutbäder, die ein überlegender Feind anrichtet, wenn er den ihm unterlegenen Gegner hinschlachtet, sind verstörend. Pulleys komplexe, ambitionierte Erzählweise, die zwischen den Figuren, Handlungsorten und den einander beeinflussenden Zeitebenen hin und her wechselt, lässt das düstere Kriegsdrama ebenso wie die nebenher einfließenden philosophischen Diskussionen und Gespräche über Literatur während der langen Seetage an Bord noch härter wirken. Da der Krieg nicht beschönigt von Pulley dargestellt wird, wenn Soldaten verbrannt, entzwei gerissen oder zu Tode gepeitscht werden, ist dieser Roman wohl weniger gut für zu empfindsame Leser geeignet. Pulleys Roman, der als Kriegsdrama einen viel höheren Blutzoll als von mir erwartet verlangt, ist jedoch in diesen Beschreibungen so intensiv und eindringlich geraten, dass ich mir gewünscht hätte, dass dieser Teil noch stärker im Fokus dieses Buchs gestanden hätte.

Dagegen bleibt Protagonist Joe leider oft erstaunlich blass. Meiner Ansicht nach liegt das in dem Ausgangsszenario, das Pulley für Joe entwirft, begründet. Denn wenn Joe nicht dieser unsichere, ängstliche Typ gewesen wäre, hätte er wohl, nachdem er als Leibeigener groß geworden ist und mit Anfang vierzig auch noch sein Gedächtnis verloren hat, unglaubwürdig gewirkt. Im ersten Teil des Romans hat mich der eher nichtssagende Protagonist wenig gestört, da in diesem Joes Leben im Zeitraffer geschildert wurde. Wenn dann jedoch in späteren Teilen des Romans das Erzähltempo langsamer wird, hätte mir besser gefallen, wenn dem starken Kriegsdrama und einigen interessanten Nebenfiguren mehr Raum gegeben worden wäre. Eindrucksvoll ist mir der gelungene Auftritt von Revelation Wellesley, die die Witwe eines gefallenen Ersten Offiziers ist, als feine Dame in Erinnerungen geblieben. Davon hätte ich mir mehr gewünscht. Eine immer wieder auftauchende Tigerdame hätte sich dafür beispielsweise angeboten.
Vermutlich hatte die Geschichte um Protagonist Joe die ein oder andere Länge für mich, weil ich die Auflösung, wer Joe eigentlich ist und wie die verschiedenen Zeitebenen zusammenhängen, früh habe kommen sehen und mich davon auch nicht durch die von Pulley falsch ausgelegten Fährten habe abbringen lassen. Neben Protagonist Joe ist leider auch die Zeitreise-Geschichte, die im Kern dieses Romans erzählt wird, eher eine schwächere. Denn so ganz glaubwürdig erscheint mir nicht, dass die Engländer in diesen Zeitreise-Krieg die über lange Zeit so eindeutig unterlegende Partei sind, obwohl sie eigentlich den größten Vorteil auf ihrer Seite haben, den sie jedoch kaum nutzen. Filme wie beispielsweise Looper beinhalten da eine weit stärkere, konsistent erzählte Zeitreise-Geschichte. Allerdings konzentrieren sich diese auch auf ihre Zeitreise-Thematik. Und da ist Pulleys Roman so viel mehr. Dieser entwirft alternative Realitäten, wenn darin ein schwarzes London lebendig wird, überzeugt durch ungewöhnliche Ideen wie etwa einen ganz besonderen Leuchtturm auf den äußeren Hebriden, über den ich an dieser Stelle nicht zu viel verraten möchte, durch ein intensives, blutig brutales Kriegsdrama und erzählt letztlich eine der schönsten Liebesgeschichten.