Mühelose Genrewanderung

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Natasha Pulleys erstes Buch hatte ich recht begeistert gelesen – bei diesem wusste ich nicht so recht, was mich erwartet: Krimi, Drama, Fantasy …?

Die Geschichte spielt in einer Welt, die unserer zwar ähnlich ist – aber nicht gleich: Aus der Trafalgar-Schlacht ging die britische Flotte nicht siegreich hervor, in der Folge heißt London nun Londres, doch damit nicht genug, denn Joe Tournier kämpft seinen ganz eigenen Kampf, mit oder gegen seine Erinnerungen. Nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik bekommt er eine mysteriöse Postkarte: Nicht nur, dass sie 93 Jahre brauchte, um ihn zu erreichen, nein, auch die Karte an sich ist seltsam, denn auf ihr ist der Leuchtturm einer Hebrideninsel abgebildet und die Nachricht an ihn lautet: "Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M." Joe hat keine Ahnung: Woran soll er sich erinnern, wo ist „zuhause“, wer ist M. und was soll das mit dem Leuchtturm? Und wie soll jemand seines Alters überhaupt Post bekommen, die älter ist als er selbst? Um Antworten auf seine Fragen zu bekommen, bleibt ihm letztlich nichts anderes, als nach Schottland zu fahren – doch er landet nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in den Schlachten zwischen Briten und Franzosen und stellt fest, dass er Einfluss auf den Zeitenlauf zu haben scheint …

Was verwegen klingt, ist tatsächlich eine ziemlich mühelose Genrewanderung: Mit die größte Leistung Pulleys bei „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ ist wohl, dass die Welt, die sie erschaffen hat, zwar im ausgehenden viktorianischen Zeitalter spielt, aber einem so ganz anderen – und dass das plausibel wirkt, dass sie hier zudem locker eine Zeitreisegeschichte schreibt und auch das plausibel wirkt. Das ist dann wohl Worldbuilding at its best – allerdings für Leser, die sich an sehr leicht verfolgbaren linearen Geschichten erfreuen, denkbar ungeeignet. Mich stört eine solche Erzählweise nicht nur nicht, ich mag sie vielmehr sehr, wenn man erst durch Verbindung verschiedener Stränge über verschiedene Zeiten zu einem Gesamtbild kommt. Garniert ist all das mit einer Romanze zwischen zwei durchweg sympathischen Figuren, denen man unablässig wünscht, dass die Zeiten bzw. Geschehnisse sie zusammenführen mögen. Einmal mehr beweist Pulley, dass sie eine wahre Sprachkünstlerin ist, denn die Geschichte ist wunderschön zu lesen bzw. vorgelesen zu bekommen. In Summe ist dieses Buch sicher ein ganz besonderes, das aber Geduld braucht (schlicht aufgrund der Länge und weil man sich ein wenig konzentrieren muss) – wer die mitbringt, wird „entschädigt“ durch ein Buch, das Genregrenzen überwindet, eine rätselhafte Geschichte erzählt, das alles in wundervoller Sprache und das (zumindest mir) eine Weile in Erinnerung bleiben wird – kann man mehr wollen? Ich finde nein, daher volle Punktzahl.