Absolut gelugener Serienauftakt

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Eigentlich kann ich an alles, was einen guten Thriller ausmacht, einen Haken setzen.
Fazit: Raabe gehört für mich zu den besten Thrillerautoren, die Deutschland momentan zu bieten hat. In der Ouvertüre der neuen Thrillereihe beginnt Raabe gleich mit einem Paukenschlag. Wer Tom Babylon mochte, wird Art Mayer lieben. Ruppig, kantig aber voller Empathie, mit einer Vergangenheit, über die er in seinem neuen Fall noch stolpern wird.
Eine eisige Nacht in Berlin. An der Siegessäule wird in einem Kleinlaster die Leiche einer Frau gefunden. Jemand hat mit Blut etwas auf ihren nackten Körper geschrieben – die Privatadresse des Bundeskanzlers Henrik Westphal. Und Arts Vergangenheit ist enger mit Westphal verknüpft, als es zunächst scheint.
Die Tote ist fatalerweise die Frau des Gesundheitsministers und in wenige Tage beginnt der G20-Gipfel. Verständlich, dass der Fall nicht an die Öffentlichkeit drängen soll, doch es läuft nichts nach Plan.
Am Tatort trifft Art auf seine neue Kollegin Nele Tschaikowski, frisch gebackene Kommissar-Anwärterin. Und Nele, jung, unerfahren aber voller Ehrgeiz, weiß sich von Beginn an in dem männerdominierter Team zu behaupten. Ihr Privatleben läuft nicht ganz nach ihren Vorstellungen und in ihrem Job hat sie gegen einige Vorurteil zu kämpfen.
Auf der zweiten Zeitebene lernen wir – allerdings nur mit Spitznamen – einige Jugendliche kennen, von denen einer der spätere Bundeskanzler werden soll. »Boxer« muss sich einer Mutprobe stellen, die aus dem Ruder läuft und das Leben der Clique beeinflussen soll.
Was in amerikanischen Thrillern gang und gäbe ist, nämlich das Regierungsoberhaupt direkt in einen Mordfall zu verstricken, liest man hierzulande eher selten. Doch wir bekommen hier keinen Polit-Thriller geboten. Hier wird ein Netz aus Geheimnissen, Abhängigkeit und Loyalität gesponnen.

Seinem mitreißenden und fesselnden Erzählstil bleibt Raabe treu, er schafft es, 588 Seiten voller Spannung aufzubauen, Vergangenheit und Gegenwart sauber zu verknüpfen, authentische und vielschichtige Charaktere lebendig werden zu lassen, überraschende Wendungen perfekt zu platzieren und uns eine saubere Auflösung zu präsentieren. Ich sagte ja bereits – Haken dahinter, alles richtig gemacht.
Auch lebt die Geschichte von einem aktuellen Zeitbezug. Der Ukrainekrieg, die Energiekrise, Verschwörungstheoretiker oder Corona fließen spielerisch in die Handlung ein, ohne dass der Leser das Gefühl bekommt: »Nicht schon wieder.«
Eine Sache hat mich persönlich beeindruckt. Wenn es um das Thema gendern geht, fühlen sich manche Bücher für mich wie Maßreglungen an, wirken steif wie ein Fremdkörper, wie ein Muss des Autors, sich davor nicht verschließen zu dürfen. Raabes zeigt, dass dieses Thema noch nicht überall in der Gesellschaft angekommen ist, dass der Mensch halt nicht so perfekt ist, und schnell in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Nele schreckt nicht davor zurück, ihre Vorgesetzten zu korrigieren – auf eine gesunde Art und Weise, versehen mit gezielten Spitzen. Und ja, da sind sie, die Ignoranten, die Zyniker, die Sexisten aber auch die Lernfähigen, mit denen wir es auch im Alltag zu tun haben. Raabes Umgang mit dem Thema fühlt sich für mich realistisch an, nicht belehrend oder aufgesetzt. Das ist für mich die Tonart, die ich mir wünsche, danke dafür.

Zwei Kritikpunkte will ich noch ansprechen, die aber nicht in die Bewertung einfließt. Persönlich finde ich die grelle, pinke Aufmachung des Covers überhaupt nicht schön, okay, Geschmacksache. Der beißende Geruch nach Lösungsmitteln im schwarzen Farbschnitt war aber unerträglich. Vorablesen hat mir das Buch freundlicherweise umgetauscht, aber auch das andere riecht es sehr unangenehm. Für mich ein deutlicher Qualitätsmangel. Habe in einer Buchhandlung extra an anderen (auch schwarzen) Farbschnitten geschnuppert – keiner hat so penetrant gerochen.