Wintereinbruch in Gebirgsnorwegen

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buecherfan.wit Avatar

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Die Norwegerin Anne Holt legt mit “Der norwegische Gast” keinen typischen Skandinavienkrimi vor, sondern orientiert sich eher an klassischen Vorbildern, speziell an Agatha Christies “And then there were none” (Zehn kleine Negerlein / Und dann gab´s keines mehr. An einer Stelle im Roman erwähnt Holt sogar ausdrücklich den bekannten Kinderreim "Zehn kleine Negerlein" ). Im englischen Original lädt ein unsichtbarer Gastgeber eine kleine Gruppe von Menschen auf eine Insel ein, wirft ihnen ein in der Vergangenheit gut vertuschtes Verbrechen vor und dezimiert ihre Zahl dann systematisch . Anne Holt wandelt die Grundsituation ab. Hier strandet eine wesentlich größere Gruppe von Bahnreisenden in dem entlegenen Bergdorf Finse und kommt in Bahnhofsnähe in dem Hotel Finse 1222 und dem benachbarten Appartementhaus unter. Beide Ausgangssituationen habe jedoch gemeinsam, dass keiner hinaus und keiner hinein kann. Das wird natürlich zum Problem, als die ersten Morde passieren.

Im Hotel wird in der ersten Nacht ein bekannter Pastor erschossen im Schnee vor dem Hotel aufgefunden. Das zweite Opfer in der folgenden Nacht ist ebenfalls ein Kirchenmann, der etwas zu wissen schien, aber sein Wissen vor seinem Tod nicht weitergeben konnte, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon die Mitreisende Hanne Wilhelmsen, eine ehemalige Kommissarin, private Ermittlungen aufgenommen hat. Sie sitzt im Rollstuhl, seit sie vier Jahre zuvor bei ihrem letzten Einsatz schwer verletzt wurde. Sie sieht und hört vieles, aber sie ist in ihrer Beweglichkeit natürlich eingeschränkt und muss sich darauf verlassen, dass ihr einige der Anwesenden ein wenig zuarbeiten.

Die Autorin entwickelt den Fall bis zu der überraschenden Lösung am Ende, die Hanne Wilhelmsen der inzwischen eingetroffenen Polizei wie auf dem Tablett serviert. Einige mysteriöse Begleiterscheinungen begreift aber auch sie erst im allerletzten Moment, zum Beispiel, wer im letzten Waggon des Zuges und später im Keller des Hotels schwer bewacht versteckt wurde und welche Bewandtnis es mit dem “kurdischen Ehepaar” und dem südafrikanischen Geschäftsmann hat, als sie durch ein Fernglas den Abtransport der Reisenden mit Hubschraubern verfolgt. Der Leser bleibt allerdings auch dann noch ein wenig ratlos zurück.

An diesem Roman gefällt das ruhige Erzählen, die sorgfältige Charakterisierung der bunt zusammen gewürfelten Gruppe, allen voran die mürrische, psychisch und physisch schwer angeschlagene Hanne Wilhelmsen, die es ihren Mitmenschen nicht gerade leicht macht. Die Gestrandeten stellen aus Hanne Wilhelmsens Sicht einen typischen Querschnitt der norwegischen Gesellschaft dar, von der Autorin sehr bissig und ausgesprochen negativ dargestellt. Der Roman liest sich gut, aber er ist nicht so spannend, wie man es vielleicht erwartet. Strukturiert wird die Geschichte durch die Aussagen zum Wetter und zur Windstärke und ihrer Auswirkung im Gebirge nach der Beaufort-Skala: erst wird es immer schlechter und bedrohlicher - eine Wand bricht weg, Fenster bersten, das Hotel ist völlig eingeschneit, vom Himmel nur noch ein winziges Stück zu sehen - dann beruhigt sich die Wetterlage. Die Eingeschlossenen können befreit und die Morde aufgeklärt werden.