Über das vergebliche Streben nach Vollkommenheit

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REZENSION - „Solange ich atme, hoffe ich“. Dieses Mantra einer der beiden Hauptfiguren im neuen Roman „Der perfekte Kreis“ des britischen Schriftstellers Benjamin Myers (45), erschienen im September beim Dumont Verlag, zeigt in wenigen Worten, dass trotz aller Mühen unser Wirken auf Erden unvollkommen ist. Vollkommenheit bleibt eine unerfüllte und wohl unerfüllbare Hoffnung. Auf diesen Widerspruch zwischen Hoffnung und Wirklichkeit verweist auch der Titel dieser wunderbaren Novelle, kann es doch den perfekten Kreis nicht geben, wie schon das Cover mit der Abbildung des Ensō-Symbols aus der japanischen Kalligraphie deutlich macht. Nur ein vollkommener Mensch könne demnach ein wahres Ensō zeichnen, während die Öffnung Unvollkommenheit symbolisiert.
Unvollkommen sind auch die beiden Freunde in Myers nur 220 Seiten kurzen Roman: Da ist der obdachlose Redbone „mit tiefem Argwohn gegenüber allen Formen von Obrigkeit und Bürokratie“, und sein Freund Calvert, ein aus dem Falkland-Krieg mit halbseitig entstelltem Gesicht heimgekehrter Veteran, der sich „als Schachfigur in den sinnlosen Machtspielen der gewählten Staatschefs dieser Welt“ versteht. Im Roman begleiten wir die beiden Freunde Calvert, „pragmatisch und diszipliniert, geprägt von Jahren militärischen Drills“, und Redbone, ein esoterisch angehauchter Punkmusiker „mit einem Hang zu Visionen, die er irgendwie zu Papier bringen kann“, während der Sommermonate des Jahres 1989 im Süden Englands auf ihren nächtlichen Touren zu einsamen Getreidefeldern, auf denen sie mystisch anmutende, bis zu 170 Meter große Kornkreis-Gebilde stampfen, die Mitmenschen an Außerirdische glauben lassen. „Sie gehen stundenlang, meilenweit, beide ganz konzentriert auf die Aufgabe, auf die Aufgabe, auf das meditative Nichts ihres sich allmählich leerendes Geistes.“ Beider Plan ist es, den „perfekten Kreis“ zu schaffen. Deshalb ist der jeweils nächste Kornkreis „immer ein Leuchtturm, ein Licht der Hoffnung“. Geprägt von Freiheitsdrang und Abneigung gegen die Obrigkeit, verbindet beide der Wunsch, bei ihrer stundenlangen Arbeit die Unvollkommenheit des Alltags hinter sich lassen zu können, und der tief empfundene Respekt für die Vollkommenheit der Natur. Gelingt ihnen der perfekte Kornkreis, wird ihnen auch alles andere gelingen, hoffen sie. „Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit“ ist Redbones Arbeitsmotto. Doch nach ersten erfolgreichen Kornkreisen, deren Entwürfe auf der Suche nach Perfektion immer komplizierter werden, scheitern beide dann doch an der „ersten Honigwabe-Doppelhelix der Welt“, Symbol für die menschliche DNA und eine Nebelwolke in unserer Milchstraße.
„Der perfekte Kreis“ von Benjamin Myers ist – wie schon dessen Roman „Offene See“ (2020) ebenfalls von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sprachlich wunderbar ins Deutsche übertragen – nicht nur eine Hommage an die Schönheit der von Menschenhand und Klimawandel gefährdeten Natur, sondern auch eine Liebeserklärung an alle gutwillig handelnden Menschen. Seine Nation sieht der Brite dagegen kritisch: „Da wir auf einer Insel leben, bilden wir uns ein, wir wären etwas Besonderes. Aber das sind wir nicht. … Wir haben Angst vor der Welt. Und das erzeugt Arroganz, und Ignoranz ist der Tod des Anstands.“ Zudem ist es allein dem lückenhaften und unzuverlässigen öffentlichen Verkehrsnetz Englands geschuldet, dass es Ex-Soldat Calvert, der kein Auto besitzt, nicht schafft, ans Meer zu kommen, um Selbstmord zu begehen.
Diese Lückenhaftigkeit, diese Unvollkommenheit in vielen Bereichen unseres Lebens und Wirkens zieht sich thematisch durch Myers Roman. Sogar der Autor selbst lässt Lücken und schafft so in seinem Werk die Perfektion der Unvollkommenheit. Wir erfahren wenig über das soziale Umfeld und Alltagsleben seiner Protagonisten – wir treffen sie nur bei nächtlichen Kornkreis-Streifzügen – und nicht einmal Calvert kennt den vollständigen Namen seines Freundes Redbone. „Der perfekte Kreis“ ist ein wunderbarer, ein eigenartiger Roman, der trotz seines philosophischen Tiefgangs und Gedankenspiels dank seiner beiden ungewöhnlichen Charaktere und seines angenehmen Schreibstils, gespickt mit mancher Ironie, gut lesbar und unterhaltend ist. „Der perfekte Kreis“ ist ein nachhaltiger Roman, der offen bleibt, zum Nachdenken über das Gelesene drängt und Hoffnung lässt, denn „solange ich atme, hoffe ich“.