Italienische Fabulierkunst

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Domenico Daras Roman führt uns zurück in die späten 1960iger Jahre in ein kleines verschlafenes Dorf im süditalienischen Kalabrien. Das Dörfchen Girifalco ist nicht fiktiv, sondern existiert tatsächlich: es ist der Heimatort des Autors.

Der kauzige Postbote des Ortes führt als Protagonist durch die Geschichte. Mit seinem Namen wird er nie bezeichnet, dieser erschließt sich erst im Laufe des Buches.

Eigentlich ist sein berufliches Verhalten strafbar und nicht zu entschuldigen, denn er öffnet und liest heimlich so gut wie alle Briefe, die er auszutragen hat. Aufwändig kopiert und archiviert er die Post und stellt sie sorgfältig wieder verschlossen ihren Empfängern zu.

Doch irgendwie kann man ihm nicht wirklich böse sein. Denn es ist sein tiefes, fast philosophisches Interesse für die Gefühle und Träume der Schreiber, für das Leben, das sich in den Briefen offenbart. Seine große Einfühlsamkeit und sein Mitgefühl treiben ihn auch immer wieder zu aktivem Eingreifen.

Hin und wieder nämlich schreibt er Briefe um, und überreicht diese den Empfängern und nicht die Originale. So versucht er Dingen, die drohen schief zu laufen, eine andere, möglichst richtige Richtung zu geben. Egal, ob es sich nun um Liebesdinge oder niederträchtige politische Machenschaften von korrupten Bürgermeistern handelt. Ja, er entwirft sogar Briefe, die es gar nicht gibt, um eine Mutter zu trösten, die ihren im Ausland arbeitenden Sohn vermisst.

„Wie jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand nahm auch der Postbote die Verdrehtheit der Welt nicht einfach hin, aber im Gegensatz zu anderen konnte er Schicksale verändern und dafür sorgen, dass die Dinge sich nach seinem Gutdünken entwickelten. Verschweigen nicht auch Ärzte ihren Patienten, dass ihre Krankheit tödlich ist, um ihnen noch eine unbeschwerte Zeit zu gewähren?“ (S. 262)

Eine weitere Leidenschaft des Postboten ist die Erforschung von Zufällen, von denen er eine nummerierte Liste führt. Wie sie sich auf das menschliche Schicksal auswirken, möchte er gerne wissen. Dafür entwickelt er gar eine „Theorie des Zufalls“.

„ […] denn jeder Zufall trägt naturgemäß eine tiefere Bedeutung in sich. Und sollte sich letztlich herausstellen, dass es diese Bedeutung doch nicht gab, so haftete dem Zufall in den Augen des Postboten dennoch eine eigene natürliche Schönheit an“ (S. 294)

Als er eines Tages spezielle Liebesbriefe auszutragen hat, führen ihn diese zu einem früheren Verbrechen und zu einer unglücklichen Liebesgeschichte, die seiner eigenen sehr ähnelt.

Fazit:

Der Debütroman von Domenico Dara wurde in Italien sehr positiv aufgenommen und mit einigen Preisen prämiert.

Der Autor erzählt in einem sehr poetischen Ton. Die Sprache ist anspruchsvoll, aber nicht schwierig. Man hört die Lust am Fabulieren heraus.
Die Schilderung des Lebens und die Schwere des Schicksals in dem abgelegenen Dorf in Süditalien liest sich sehr authentisch.

Konzentration ist allerdings gefragt, denn der Handlungsfaden, der durch die Geschichte führt, scheint nur sehr dünn. Die Episoden, die wie an einem Perlenstrang nebeneinander aufgefädelt werden, werden von einer großen Vielzahl von Dorfbewohner bevölkert. Doch irgendwie fehlt ihnen ein bisschen der handlungstragende Zusammenhang.

Wer einen spannenden Handlungsbogen sucht, wird hier nicht fündig. Mit ein bisschen Geduld und Interesse für philosophische Gedankengänge kann man in dem Buch in die Vergangenheit Süditaliens abtauchen. Freunde und Freundinnen italienischer Erzählkunst finden eine ausgewogene Mischung aus Melancholie und einem augenzwinkernden, etwas schrägen Humor.