Kalligrafisch gelenkte Leben

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amara5 Avatar

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Domenico Daras Debütroman "Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall" ist rund 480 Seiten lang und erscheint im Kiepenheuer & Witsch Verlag.

Süditalien, Kalabrien, Girifalco im Jahr 1969: Der melancholische Postbote des Dorfes hat schon früh sein kalligrafisches Talent, sprich das exakte Nachahmen von Handschriften, erkannt und zu seiner ganz eigenen Lebensaufgabe ernannt: er öffnet geheim Briefe der Dorfbewohner, schreibt sie ab, archiviert sie wie ein penibler Sammler und trägt sie dann aus. So weiß er über das Leben anderer sehr viel - sein eigenes nimmt er eher nur gedanklich in die Hand und fristet nach einer unglücklichen Liebe sein Leben als beobachtender Einzelgänger. Sein roter Faden ist es, in die Schicksale der Dorfbewohner kalligrafisch einzugreifen, wenn er es für nötig hält. Beispielsweise wenn der korrupte Bürgermeister versucht, den geliebten Kiefernwald Monte Covello in eine Mülldeponie zu verschändeln oder wenn Verbrechen ungesühnt und große Lieben nicht zusammenfinden.

Ansonsten macht sich der Schicksalsbote gern philosophische Gedanken über das Leben, Doppelgänger - und über Zufälle, die er auch akkurat in einem Tagebuch notiert. Von erotischen Abenteuern träumt er nur - da geht es manchmal auch recht frivol zu.

Domenico Dara hat ein sprachlich leichtes und doch niveauvolles Ode an die Langsamkeit und Romantik geschaffen. Der Leser taucht ein in ein nostalgisches Italien (das Cover ist hier sehr passend getroffen), er riecht die frisch gewaschene Wäsche und das Essen mit duftenden Gewürzen und fiebert mit den Schicksalen der sympathischen Dorfbewohnern mit, wenn der Postbote seinen analytischen Rundgang macht und Briefe verteilt. Es könnte alles so leicht sein, wenn der Postbote, der vaterlos aufgewachsen ist, nicht so traurig gestimmt wäre. Aber gerade seine vielen melancholischen Sätze und Betrachtungen des Lebens - auch wenn es Längen und Wiederholungen gibt - machen die märchenhaft angehauchte Geschichte zu etwas Besonderem. Sehr gut gefallen haben mir die kurzen, lustig-prägnanten Kapiteleinleitungen, die das Märchenhafte des Romans noch etwas unterstreichen.

„Der Postbote hatte das Bedürfnis, sich jedes Ereignis zu erklären, nach den Regeln des Lebens zu suchen, das Gesetz zu verstehen, das alles bestimmt.“