Loyalitäten

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Ein erfolgreicher Anwalt Anfang 50 in Paris, seine Frau mit der Tochter in Marseille, eine Wochenendehe und eine Affäre mit einer 31-Jährigen. Das klingt nach einem Buch, das Ausflüchte sucht – aber das ist es nicht. Im Gegenteil. Die Autorin lässt den Protagonisten (der, wie alle anderen Personen im Buch bis auf die Geliebte, namenslos bleibt) offen und ehrlich einen Monolog über seine Situation erzählen. Völlig frei von Ausreden, Ausflüchten, Entschuldigungen und Rechtfertigungen erzählt er, dass er seit einem Jahr ein Doppelleben führt. Ein wenig unchronologisch lässt er den Leser an Momenten teilhaben, die in diesem Jahr eine Rolle spielten und die ihn an den Punkt brachten, an dem er jetzt ist. Er zeigt sehr viel Verständnis für seine Geliebte, seine Frau und seine Tochter, malt sich immer wieder Situationen aus, die so nie geschehen sind oder geschehen werden, aber geschehen könnten. Er beschreibt seine Unfähigkeit, eins von beidem zu beenden und deutet an, dass seine Frau ohne Worte mehr weiß, als sie sagt.

Die Autorin lässt den Ich-Erzähler quasi das vergangene Jahr Revue passieren, während er in seinem Arbeitszimmer im Haus in Marseille bei seiner Frau den Anruf bei Alix immer mehr hinauszögert. Hat er sich doch zum ersten Mal von ihr regelrecht weggeschlichen, sich nicht nach ihr umgedreht, ihr nicht zum Fenster hochgewunken und den Anruf immer und immer wieder verschoben. Jetzt steht er kurz vor dem Abflug nach New York, wo er über Weihnachten und Silvester mit seiner Familie einen dreiwöchigen Urlaub verbringen wird.

Wer zwischen den Zeilen liest, fragt sich auch, warum seine Frau nie nach Paris kommt, wenn sie wirklich nichts ahnt. Der Anwalt betont immer wieder, dass er nie wachsam genug war und lässt nach und nach immer mehr durchblicken, dass er es eher schon darauf angelegt hat, von einer der beiden zu einer Entscheidung gezwungen zu werden. Und immer mehr erkennt man die Tendenz, dass die Ehe gewinnen wird.

Das Ende bleibt mehr oder weniger offen – aber es lässt den Leser nicht unzufrieden zurück. Auch wenn der Anwalt ein wenig feige handelt, so handelt er doch auf die zu ihm passende Weise und schlägt damit einen Weg ein. Diane Brasseur hat mich so sehr an das Buch gefesselt, dass ich es in einem Rutsch durchgelesen habe. Es klingt noch immer nach und lässt mich über Beziehungen und Treue nachdenken. Dem Hauptprotagonisten mache ich tatsächlich nicht mal einen Vorwurf.

„Loyalitäten“ ist der Originaltitel, der leider zu „Der Preis der Treue“ wurde. Das ist schade, denn das vermittelt einen völlig falschen Eindruck. Geht es doch einfach um Liebe. Der Liebe von Alix zu ihrem älteren Geliebten, der Liebe von der Ehefrau zu ihrem Mann, der Liebe der Tochter zum Vater, der Liebe des Anwalts zu jeder einzelnen dieser Frauen – und der Loyalität, die er jeder einzelnen entgegenbringt, auf seine ganz eigene Art und Weise. Verurteilen mag man ihn nicht, denn man spürt, dass er niemandem wirklich etwas nimmt, aber so viel gibt, wie er nur kann.

Der Stil ist recht emotionslos und trocken. Trotzdem transportiert die Autorin eine ganze Menge Gefühl darin. Die Kapitel sind meist sehr kurz und behandeln quais einzelne Gedanken des Autors zu eine bestimmten Moment. Ohne Gejammer legt der Anwalt seine Gefühle auf den Tisch. Entsprechend sind Satzbau und Erzählmelodie. Eine runde Sache, alles passt perfekt zusammen.

Ein Buch, das traurig stimmt, aber auch glücklich macht. Ein Buch, das einen ganz anderen Blick auf das Thema Ehebruch werfen lässt. Von mir fünf Sterne und den Rat, es einmal zu lesen und vorurteilsfrei daran zu gehen.