Leider eine wahre Geschichte

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Ulrich Alexander Boschwitz (Hrsg. Peter Graf) - Der Reisende

Zu den Hintergründen dieses Werks:
Ich möchte zu Beginn meiner Rezension auf die Umstände hinter diesem Roman eingehen, da diese aus meiner Sicht einzigartig sind und dieses Buch neben einem großartigen Werk auch zu einem sehr wichtigen Zeitdokument macht.
Ulrich Alexander Boschwitz verfasste diesen Roman im Jahr 1938, nachdem er aufgrund der Tatsache, dass er Jude war der zunehmenden gesellschaftlichen Stigmatisierung und schließlich der Verfolgung durch das NS-Regime ausgesetzt war. Boschwitz gelang es zum Glück schon im Jahr 1935 gemeinsam mit seiner Mutter nach Schweden zu fliehen - kurz nach Verkündung der Nürnberger Rassegesetze.
Das Originaltyopskript seines nun hier vorliegenden Romans lag bis zu seiner Entdeckung durch Peter Graf im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt.
Der Autor selbst starb am 29. Oktober 1942 bei einem deutschen Angriff auf ein von den Briten gechartertes Passagierschiff, in welchem sich Ulrich Alexander Boschwitz auf dem Rückweg von einem australischen Internierungslager.

Inhalt:
Otto Silbermann ist erfolgreicher Kaufmann, Ehemann, Familienvater und gut situierter deutscher Bürger. Doch sein Leben ändert sich schlagartig als im November 1938 die sogenannten Novemberpogrome verabschiedet werden. Anfangs hält er es nicht für möglich, dass all sein Geld, seine beruflichen Erfolge und seine Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten plötzlich nichts mehr wert sein sollen. Erst als die "Partei" vor seiner Haustür steht und verlangt, dass der "Jude" sich dem deutschen Reich ausliefern soll, wird Otto der Ernst der Lage bewusst.
Er flieht.
Da seine Versuche ins benachbarte Ausland zu kommen scheitern, entschließt sich Otto gezwungenermaßen mit der Bahn permanent quer durch Deutschland zu reisen. Dabei kommt ihm sehr zugute, dass er, im Gegensatz zu vielen anderen Juden, nicht "typisch jüdisch" aussieht und daher relativ unbemerkt von einem Zug in den nächsten gelangt.
Den körperlichen und psychischen Strapazen der Flucht vor der Regierung nicht gewachsen, wird Otto Silbermann von Seite zu Seite unsicherer und verliert immer mehr an Zuversicht und Hoffnung.
Als ihm Zuguterletzt in einem der Züge auch noch sein Geld (und damit alles was ihn in seiner Vorstellung noch an sein altes Leben, seine frühere Existenz als angesehenen Unternehmer bindet) gestohlen wird, verliert er offenbar sukzessive seinen Verstand.
Otto Silbermann gibt sich auf. Er gibt den Kampf gegen das Regime und eine Zukunft im Konzentrationslager auf.
Obwohl ihm kurz vor Ende des Buches vom Schicksal noch drei "Chancen" gewährt sind, die seinem Weg eine andere Richtung geben hätten können, ist es leider zu spät. Otto gelingt es nicht mehr selbige wahrzunehmen. Seine psychische Konstitution ist bereits zu schlecht. Er liefert sich praktisch selber den Nationalsozialisten aus.
Das Buch endet mit einer grotesken Szene zwischen ihm und seinem Zellengenossen. Otto Silbermann hat es nicht geschafft. Er endet im Gefängnis. Weil in seinem Pass ein rotes "J" steht.


Kritik:
Die eingangs erwähnten Hintergründe zu diesem Roman machten ihn für mich schon zu einem ganz besonderen Werk, noch bevor ich die erste Zeile gelesen habe. Das Zeitdokument eines bereits vor Langem verstorbenen Autors in Händen halten zu dürfen, der uns an seinen höchstpersönlichen Eindrücken und Erlebnissen zur Zeit der Novemberpogrome teilhaben lässt, erfüllt mich mit Ehrfurcht und Respekt. Tatsächlich ist es viel mehr als ein Roman, eine für viele Juden wahre Geschichte und ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument - es ist auch ein Tagebuch des Autor. Eine Verarbeitung seines Schmerzes, seines Schocks, seiner tiefen Verzweiflung und Planlosigkeit angesichts der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse.

Dieser "Tagebuchcharakter" den ich von Anfang an beim Lesen gespürt habe, bestätigte sich, als ich das Nachwort des Herausgebers am Ende des Buches las. Es ist tatsächlich gefüllt von Parallelen zu Boschwitz´s Leben und seinen Erfahrungen mit dem NS-Regime, die er in diesem Buch verarbeitet.

Die absolute Sinnlosigkeit der Verfolgung einer bestimmten Menschengruppe aufgrund ihrer Religion bzw. ethnischen Herkunft wird in diesem Roman noch gesteigert. Es ist Ulrich Alexander Boschwitz gelungen mich total in seinen Bann zu ziehen. Es war leicht mich mit dem Hauptakteur Otto Silbermann zu identifizieren. Der/die LeserIn kommt nicht umhin sich die Frage zu stellen, wie er/sie selbst reagieren würde, wenn man ohne eigenes Zutun, schuldlos plötzlich geächtet, enteignet, verfolgt und mit dem Tod bedroht wird. Wohin soll man gehen? An wen kann man sich noch wenden? Aus Freunden werden Feinde. Aus Polizisten werden Handlager einer Regierung, die dich entsorgen will.
Das beklemmende Gefühl in der Brust, welches man beim Lesen bekommt, lässt nur langsam nach. Dieses Buch geht tief. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen, die einen Rechtsruck in der gesamten westlichen Welt zur Folge haben und uns mit Furcht in eine Zukunft schauen lassen, die von Fremdenhass geprägt ist.

Auch wenn man sich dieses Buch in eine eigene Vitrine stellen könnte, um seinem Wert gerecht zu werden, sollte dieser Roman so oft wie möglich gelesen werden. Von sovielen Menschen wie möglich. Damit sich die Vergangenheit auf keinen Fall wiederholt! Denn diese Geschichte von Otto Silbermann ist nicht "erfunden", sondern ein Mahnmal, welches beispielhaft für ein entsprechendes Schicksal zigtausender Juden steht.