Eine Reisebegleitung nach Tibet, kein Reisebericht

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la tina Avatar

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Der französische Autor Sylvain Tesson wurde vom Naturfotografen Vincent Munier eingeladen, ihn und sein kleines Team ins Hochland Tibets zu begleiten, um dort Film- und Fotoaufnahmen des seltenen Schneeleopards zu machen. Von dieser völlig neuen Herausforderung berichtet der Autor in diesem Buch.

„Ich selbst hatte fünfundzwanzig Jahre lang die Steppen durchmessen, ohne auch nur zehn Prozent von dem wahrzunehmen, was Munier erfasste.“ (Zitat S. 46)

Manch einer hat bereits davon gehört, manche machen es selbst, nicht jeder hat dafür Verständnis: Naturfotografen harren oftmals stundenlang still bei Wind und Wetter aus in der Hoffnung, ein besonderes Motiv vor die Linse zu bekommen. Dass man durch langes auf der Lauer liegen manchmal Dinge entdeckt, welche man durch das Hasten durch den Tag und die Welt womöglich gar nicht bemerkt hätte, wird dem Autor auf dieser Reise bewusst. Neben dem Warten sind vor allem die winterlichen Temperaturen von -20°C und kälter eine immense Herausforderung für das Team, welche durch die besondere Natur teilweise wieder wettgemacht wird.

„Die Tinte gefror, hastig brachte ich die Sätze zu Papier: „Die Abhänge geriefelt von schwarzen Maserungen, Rinnsale aus dem Tintenfass Gottes, der nach der Niederschrift der Welt seine Feder ablegt.““ (Zitat S. 73)

Das Buch ist kein reiner Reisebericht, sondern mit den Augen und den Worten eines Autoren verfasst. Die Idee ist nicht neu, auch Douglas Adams war einst mit dem Zoologen Mark Carwardine unterwegs auf der Suche nach seltenen Tieren und hat sein Buch als biologischer Nicht-Profi mit britischem Humor versehen. Britischen Humor findet man hier herkunftsbedingt nicht, vielmehr ist das Buch laienhaft mit philosophischen Gedanken durchsetzt, woran der das Team begleitende Philosoph wohl nicht ganz unbeteiligt sein mag. Ebenso zieht Tesson Parallelen zum Dàodéjīng des Lǎozǐ, welchem die Philosophie Tibets zugrunde liegt. In meinen Augen eine im Ansatz interessante gedankliche Bereicherung.

„Die Tiere sind die Hüter der Grünanlagen, in denen der Mensch Reifentreiben spielt und sich als König gebärdet.“ (Zitat S. 47)

Neben Yaks, Blauschafen und Wölfen ist das Hauptanliegen natürlich, einen der letzten, verbliebenen Schneeleoparden zu entdecken. Bei geschätzten 5000 Exemplaren, verteilt auf ein riesiges Gebiet, gleicht dies fast einem Glücksspiel. Oder man übt sich in Geduld und genauem Hinsehen.

„Überlebende wovon?“, fragte ich.
„Von der Ausbreitung des Menschen“, sagte Marie. (Zitat S. 85)

Ohne zu spoilern kann ich sagen: Ja, sie sehen mehrfach einen Schneeleoparden. Im Buch selbst sind allerdings nur zwei Fotos in s/w abgedruckt, ein Bildband mit Reisejournal ist jedoch erhältlich.
Neben all den Worten des Lobes folgt meinerseits auch Kritik: Mir ist der Autor ein paar mal zu häufig gedanklich in private Erinnerungen abgeschweift, welche ich weder als relevant noch als bereichernd empfand. Welche Frau ihm einst warum den Laufpass gegeben hat muss ich nicht in allen Einzelheiten wissen. Mag sein, das einem beim Warten in Eiseskälte auch solche Dinge durch den Kopf gehen, aber was interessiert mich das als Leser? Derlei Dinge hätten zugunsten von mehr Eindrücken und Erlebnissen oder besonderen Details der Reise gestrichen werden können.