Nicht für jeden Leser

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sandra falke Avatar

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„Und wenn nichts kam, hatten wir nicht hinzusehen gewusst.“ heißt es gegen Ende von Sylvain Tessons Roman „Der Schneeleopard“. Besser könnte dieses Buch nicht zusammengefasst werden. Ein vorzüglicher Lesegenuss gilt hier ausschließlich denjenigen, die hinsehen können – und wollen.
Der Elegant stilisierte, kulturhistorisch gehaltvoller Roman über eine Expedition in tibetische Hochebenen auf der Suche nach der seltenen Raubkatze ist gefüllt mit stillen Betrachtungen zu Seen, Tälern, Bergen und eisigen Landschaften, deren Kälte den Grundton der Erzählung angibt.

Tesson verbringt mehrere Tage in extremen Temperaturen und verharrt die meiste Zeit erwartungsvoll in stiller Haltung. Geduld und Ehrfurcht werden mehrmals belohnt: die Gruppe begegnet, beobachtet und dokumentiert an diversen Orten Yaks, Wölfe, Füchse, eine Pallaskatze - und schließlich den Schneeleopard.
Obgleich die perfekt getarnte Raubkatze immer wieder Hinweise auf ihre Präsenz gibt und im Laufe der Expedition so plötzlich auftaucht, wie sie auch wieder verschwindet, wird innerhalb der Narrative nirgendwo auch ein Hauch von Spannung aufgebaut. Bereits die Erwartungshaltung wird gezielt mit Titeln der Kapitel wie erste, zweite und letzte Begegnung vorweggenommen.
Offensichtlich wird hier Wert auf die schweigende Reflexion, die langsame Fortbewegung und die bewusste Beobachtung gelegt. Als Ergänzung greift der Autor tief ins intellektuelle Gepäck und liefert Informationen zu der kulturellen und kunsthistorischen Rolle des Leoparden, erörtert den natürlichen Habitus der Wildkatze und legt religionshistorische und soziokulturelle Informationen über das Land Tibet dar.
„Der Schneeleopard“ ist ein feines Stück Literatur, voller Andacht für die Natur, Bewunderung für wilde Tiere und Entdeckungsreisen in die Nuancen der Menschheitsgeschichte, die dem richtigen Leser ein genussvolles Erlebnis bieten werden.

Allerdings muss vorab auf Tessains introspektiven Ton und gemächliches Tempo hingewiesen werden, die nicht für jedermann von Interesse sein werden. Jene Leser, die sich gerne stundenlang in stiller Betrachtung leerer Landschaften oder den Seitengängen eigener Gedanken verlieren, Fachbegriffe und lateinische Artenbezeichnungen mit Betonung jeder einzelnen Silbe vergnüglich auf der Zunge vergehen lassen – für diejenigen wurde dieser Roman geschrieben.
Jeder andere wird sich in dieser Erzählung kaum zurechtfinden können.