Eine einfache Geschichte erzeugt sehr subtil Spannung

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Mitten aus einem Alptraum wird ein Mann nachts durch die Rufe seiner kleinen Tochter geweckt. Sie kann nicht wieder einschlafen, ehe sie ihrem Vater nicht ein besonderes Geheimnis anvertraut hat. Die Kleine (die gar nicht mehr so klein ist; denn sie muss am nächsten Morgen in die Schule) hat auf dem gegenüberliegenden Dach einen Engel gesehen. Der beruflich gestresste Vater möchte schnell wieder ins Bett und hört seiner Tochter nicht so genau zu – wie übermüdete Eltern es eben so tun. Was das kleine Mädchen gesehen hat, beunruhigt deshalb die Leser mehr als den Vater, der die Sache einfach nur schnell zu Ende bringen möchte. Der Engel hatte keine Flügel, er machte überhaupt keinen glücklichen Eindruck – und er hat einen Schuh auf dem Dach zurück gelassen. Mit dem Versprechen, dass der Vater sich am nächsten Morgen darum kümmern wird, dem Engel seinen Schuh zurückzubringen, schläft das kleine Mädchen ein. 

In der zweiten Geschichte dringt ein Mann in eine Wohnung ein, die noch alle Spuren der Bewohner zeigt. Könnten die Bewohner ihre Zuhause erst vor wenigen Minuten verlassen haben? Mit wachsender Spannung verfolgen die Leser, wie genau sich der Einbrecher in der Wohnung auskennt und erfahren am Ende der Geschichte verblüfft, was er dort vorhat. 

Vincent Delacroixs Buch ist aus dem Französischen übersetzt. Mein erster Eindruck ist deshalb meine Verwunderung, wie selten französische Autoren ins Deutsche übersetzt werden. Die erste von insgesamt zehn Geschichten um einen Schuh auf dem Dach entfaltet ihre Spannung langsam und sehr subtil. Der Leser lässt sich vom Schuh auf dem Dach und von einer Nebenbemerkung über das Schicksal des kleinen Mädchens sehr viel stärker beunruhigen als der Vater; der einfach nur schnell wieder ins Bett möchte, weil er einen harten Tag vor sich hat. Die zweite Geschichte hat mich sehr verblüfft und ich habe nach Verbindungen zur ersten gesucht. In welcher Verbindung steht die Familie aus der ersten Geschichte zu den Bewohnern dieser Wohnung? Sind sie Nachbarn? Welche Überrraschungen erwarten uns noch? Die kurze, abgeschlossene Leseprobe weckt jedenfalls meine allerhöchste Neugier auf den Schuh auf dem Dach.