Aussergewöhnlich

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matze08645 Avatar

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Immer wieder spielt "Der Schuh" (oder sollte man besser sagen: EIN Schuh?) eine Rolle und damit verbunden die Blickwinkel, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Das kleine Mädchen, welches glaubt, nachts einen Engel gesehen zu haben. Der Einbrecher, der durch eine ihm nicht unbekannte Wohnung schleicht. Die einsame Frau mit gebrochenem Herzen. Ein anerkannter Kritiker, der die Stimme Sokrates hört. Zwei Männer auf dem Dach, die das eine suchen - aber plötzlich daselbst gefunden werden. Zwei Gäste, im Grünen sich verlaufend, bevor sie ihr Ziel erreichen usw.
Einsichten von Menschen, die allesamt irgendwie auf der Suche (meist unbewusst) sind - nicht im Außen, sondern im Inneren, nach dem fehlenden Stückchen des jeweils eigenen Ich's: Neugierde, Verletzbarkeit, tiefer Herzschmerz, Schrei des inneren Kindes, verweigernder Hilfe, Liebe des Lebens etc.

Alle Darsteller erleben auf ihre ureigenste Weise die jeweiligen Konfrontationen, an denen Vincent Delecroix in Der Schuh auf dem Dach in einer Reihe von unterschiedlichen Betrachtungsweisen, mit französischen Charme und meisterhaftem Geschick erzählend, teilhaben lässt. Erlebnisse auf 207 Seiten erzeugen eine sanfte Unterhaltung zwischen Melancholie und Poesie, zum Schmunzeln wie Nachdenken, von zauberhaft bis traurig, bis dann im Kapitel 10 die Verbindung aller einzelnen Sichtweisen im Epilog offenbart wird. Dem Autor ist es perfekt gelungen, in einem Spiel aus Worten von Gedanken und Gesprochenem Episoden zu inszenieren, die bis zum Ende eines jeden Kapitels spannend bleiben und dem Leser dann erst offenbaren, worum es tatsächlich in selbigem ging. Das Zusammenspiel der Worte, Gefühle mit Handlungen zu assoziieren - selten habe ich einen Autor erlebt, der Emotionen treffender zum Ausdruck bringen konnte. Ganz großes Wort-Kino", das allein schon standing ovations" verdient.

Für Leser, die solch verstrickte Inszenierungen NICHT mögen, ebenso wie für Leser, die gerne ein Buch am Ende beginnen, um schon vorm ersten Kapitel zu erfahren, ob es ein Happy End gibt , ist dieses Buch sicherlich nichts. Dafür wäre das Buch zu schade und würde wahrscheinlich allein deswegen schlechte Kritiken bekommen, weil es eher am mangelnden persönlichen Interesse oder Verständnis für das, was der Autor ausdrücken möchte, liegt, aber sicher nicht am Inhalt selbst.

Insofern ist Der Schuh auf dem Dach genau das richtige Buch für diejenigen, die Kurzgeschichten mögen und mit aufmerksamer Geduld bis zum Ende einer jeden Episode lesen. Ein ideales Buch für alle, die vorm Lichtausknipsen noch ein wenig schmökern und dann friedlich einschlummern möchten in dem Bewusstsein, etwas Nachdenkliches, Auf-etwas-aufmerksam-Machendes, Zauberhaftes, Menschliches, Mitfühlendes gelesen zu haben.
Aber: aufmerksames Lesen vonnöten - Mitdenken erlaubt ;-)

Selten binde ich die Aufmachung eines Buches in die Rezension mit ein - das möchte ich hier aber in jedem Fall tun.
Das Cover selbst hätte nicht treffender gestaltet sein können: ein Spiel aus Schatten und Licht, bildhafte Angst sowie Hoffnung, ein wenig mystisch und auf der anderen Seite unendlich klar. Perfekt abgestimmt auf die Kurzgeschichten. Der rote Einband des Buches ebenso stimmig wie dezent gehalten der Autorenname und Titel am Buchrücken. Hier passt wirklich alles zusammen: Cover - Buchgestaltung - Inhalt. Selten harmonieren alle Gesichtspunkte wie in diesem Fall. Das einzige, was mir gefehlt hat, war ein Lesebändchen ;-)