Grotesk

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marialein Avatar

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Die Leseprobe nimmt den Leser mit zu einer Investigation des vermutlich größten Justizskandals Schwedens, wenn nicht gar weltweit: Sture Bergwall wurde in acht Fällen wegen Mordes verurteilt, in zahlreichen anderen angeklagt - obwohl er nie einen Menschen umgebracht hat!

Der Text ist nicht nur informativ und gut lesbar geschrieben, sondern auch sehr geschickt aufgebaut - anfangs wird man direkt in eine völlig surreale Situation eingeführt, in der Thomas Quick, bzw. Sture Bergwall, begleitet von seiner Ermittlungsgruppe, die zerstückelte Leiche eines toten Mädchens sucht, das er angeblich getötet hat. Dass Quick nicht den geringsten konkreten Hinweis geben kann und sich andauernd selbst widerspricht, findet keiner der Anwesenden seltsam, da sie es auf die Verdrängungsmechanismen seiner traumatisierten Psyche zurückführen und seinen Schilderungen einen Symbolcharakter zuschreiben, um eventuelle Unstimmigkeiten wegzuerklären. Trotz der ergebnislosen Such nach der Leiche wird Quick verurteilt.

Im nächsten Kapitel wird die ganze Geschichte ganz anders angegangen - aus der heutigen Sicht und aus dem Wissen heraus, dass Bergwall sich die schrecklichen Morde nur ausgedacht hat und von den Ermittlern und Psychotherapeuten noch animiert und ermutigt wurde, um sich noch ungewöhnlichere und sensationellere Geschichten auszudenken. Alles an der Story ist so grotesk, dass man kaum glauben kann, dass sie wahr ist. Aus der Leseprobe geht nicht hervor, wie Bergwall eigentlich zu seinem neuen Namen kommt, aber für mich mutet er geradezu wie ein Künstlername an. Auch Formulierungen wie "Durchbruch" bei der Suche nach der Leiche und die gesamte Schilderung im ersten Kapitel lassen einen eher an einen Star denken als einen drogensüchtigen Kleinkriminellen, der sich als Serienmörder ausgibt.

Das Gelesene lässt einen darüber nachdenken, wie zuverlässig Strafverfolgung oder Psychologie überhaupt sein können, wenn solche riesigen Irrtümer eintreten können. Auch stellt sich die Frage, was Justiz eigentlich ist und wann man von Gerechtigkeit sprechen kann - geht es den Eltern der ermorderten Therese Johannessen vielleicht zumindest ein bisschen besser, wenn sie sich wenigstens einbilden können, dass der Mörder ihrer Tochter verurteilt wurde? Inwiefern kann man überhaupt jemanden verurteilen, der anscheinend nicht ganz zurechnungsfähig ist? Und welchen Unterschied macht für Bergwall eigentlich die Verurteilung bzw. der Freispruch, wenn er ohnehin seinen Alltag in der Klinik verbringt? Beeindruckend ist dabei die Arbeit von Rechtsanwalt Olsson, der jahrelang unentgeltlich arbeitet, um den Irrtum seiner Vorgänger auszubügeln.

Ein faszinierende Lektüre. Fesselnd und bizarr!