Ein Drama auf allen Ebenen

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singstar72 Avatar

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Ich bin mit gemischten Erwartungen an dieses Buch gegangen. Die Leseprobe war unzweifelhaft interessant; der Klappentext auch. Es schien hier um eine Mischung aus Krimi, Psychodrama und journalistischer Fleißarbeit zu gehen. Abgeschreckt hatte mich jedoch die Seitenzahl – mir schien wenig erklärlich, warum die Geschichte nicht auch auf weniger Seiten authentisch zu transportieren sein sollte.

Ich bin nun, nach der Lektüre, eher positiv überrascht. Was der Autor hier geleistet hat, geht über eine reine Fleißarbeit weit hinaus. Das war eine journalistische Meisterleistung, für die er die diversen Preise wahrlich verdient hat. Er hat Sture Bergwalls Geschichte zu seiner eigenen gemacht, und sich bemüht, auch nur jeder Person habhaft zu werden, die im Entferntesten mit der Sache zu tun hatte. Wie viele Berge von Akten er gelesen haben muss, mag ich mir gar nicht erst vorstellen.

Es geht um den wahrscheinlich größten Justizskandal in der Geschichte Schwedens. Sture Bergwall, ein drogensüchtiger Kleinkrimineller, wird – durch diverse Umstände und Abhängigkeiten – zum „Serienmörder“ hochstilisiert, bis er selber daran glaubt. Er lässt sich fallen in die teilweise unglaublich bequemen Umstände. Wenn er hübsch weiter „gesteht“, bekommt er die gewünschten Medikamente, und hat noch dazu Ansehen sowie ein geregeltes Leben. Eben all das, was er sein Leben lang entbehrte.

Die Leistung des Buches (und des Autors) besteht nun darin, die Geschichte aus verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten – auch mit der Gefahr, auf den unerfahrenen Sachbuchleser langatmig zu wirken. Aber letztlich waren all diese Seiten doch nötig. Unaufhaltsam hatten sich in der Affäre Bergwall die Rädchen ineinander verzahnt. Da waren die diversen Psychologen, die sich Renommee von diesem Fall erhofften – allen voran Margit Norell. Da waren die Polizisten und Anwälte, die sich unglaublich blamiert hätten, hätten sie plötzlich die „Geständnisse“ in Frage gestellt. Da waren die Schüler Margit Norells, die sich in einer äußerst ungesunden psychischen Abhängigkeit zu ihrer Lehrerin befanden. Da war das schwedische Justizsystem, das – einmal in Gang gesetzt – wenig Raum für Flexibilität lässt. Und da war natürlich Sture Bergwall, der spätere „Thomas Quick“, selbst, der nur teilweise für die Geschehnisse verantwortlich zu machen ist.

Obwohl das Buch von Redundanzen und einigen Längen gekennzeichnet ist, würde ich es sehr hoch bewerten. Man muss als Leser schon eine gehörige Portion Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen mitbringen. Das Personenverzeichnis ist teilweise erdrückend komplex; die entstandenen Abhängigkeiten und Querverweise ebenso. Sicher hätte man auf einige „Ortsbegehungen“ oder Schilderungen von Prozessen verzichten können. Dann wäre aber die schicksalhafte Verzahnung nicht so deutlich geworden. Der Autor bemüht sich um einen sachlichen, dennoch fundierten und hinterfragenden Stil. Von der literarischen Bedeutsamkeit her würde ich nicht zögern, es mit „Kaltblütig“ von Truman Capote zu vergleichen, der ja auch einen wahren Fall eines Mordes zum Ausgangspunkt hatte.

Ich empfehle das Buch gerne weiter – allerdings nur an doch ein wenig erfahrene Sachbuchleser. In diesem Buch werden diverse Dinge nur zu deutlich. Wie sehr den Menschen die Sucht nach Anerkennung und Zugehörigkeit in Abhängigkeiten treiben kann. Wie sehr die Psychiatrie von Moden und Seilschaften bestimmt wird. Und wie wenig Justiz mit tatsächlicher Gerechtigkeit zu tun hat.