Umbrüche nach dem 1. WK

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Für Selma ist im Sommer des Jahres 1913 die Welt bestens in Ordnung. Seit jeher fährt sie jedes Jahr mit ihrer Familie in die Sommerfrische nach Baden-Baden, so auch dieses Jahr wieder. Verlobt ist sie mit dem Gutsbesitzersohn Gero, den sie innig liebt. In diesem Jahr lernt sie Constanze, eine junge Unternehmertochter aus Metz, kennen, sowie Robert, einen französischen Fotografen. Die jungen Leute verbringen eine unbeschwerte Zeit miteinander, und es knistert heftig zwischen Selma und Robert.

Doch der Krieg wirft bereits seine Schatten voraus, und es dauert nicht lange, da bricht er aus, und Gero und Selmas Bruder Grischa werden eingezogen. Die ersten Kriegsjahre verbringt Selma noch recht unbehelligt vom Geschehen mit ihrer kleinen Tochter Alma in Berlin, bis jedoch so nach und nach die Essensrationen immer geringer werden und der Notstand ausbricht. Als Gero vermisst wird, macht sie sich mit ihren Freunden Constanze und Robert auf eine abenteuerliche Reise ins Kriegsgebiet, um nach Gero zu suchen. Sie findet einen schwer traumatisierten, vom Krieg seelisch zerstörten Mann, mit dem ein Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Gero lässt sich erneut einziehen und kommt nicht mehr zurück.

Als sich der Krieg bereits dem Ende zuneigt, beschließt Selma nach Bonn zu ihrem Eltern zu ziehen. Der Kontakt zu Constanze und Robert reißt ab. Erst Großmutter Meta schafft es, die Freunde nach dem Krieg wieder zusammen zu bringen, und schließlich muss sich Selma entscheiden, welchen Weg sie zukünftig gehen will…

Der Roman beschreibt recht anschaulich die Zeit vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, eine Zeit des Umbruchs und der Umwälzungen. Nach dem Krieg, als Deutschland am Boden liegt, ist nichts mehr so wie vorher, der Kaiser ist weg, Essen ist knapp, und doch bricht für viele Menschen, vor allem für Frauen, eine aufregende neue Zeit an. Sie dürfen wählen, tragen Hosen und kurze Haare und können Berufe ausüben, die ihnen vorher verwehrt waren. Sehr treffend heißen die drei Teile des Romans denn auch Aufbruch, Ausbruch und Umbruch. Der erste Teil beschreibt die Zeit vor dem Krieg, der zweite die Zeit während und der dritte die Zeit nach dem Krieg. Vorangestellt ist ein Epilog, der auch chronologisch vor allem liegt und die idyllische Zeit der Sommerfrische beschreibt, nachgestellt ist ein Epilog, der ebenfalls in der wieder aufgenommenen Sommerfrische in Baden-Baden spielt und der somit den Kreis schlüssig abrundet.

Ich muss leider gestehen, dass mir die Figuren fast alle durchweg fremd blieben oder unsympathisch waren. Selma als Hauptfigur ist eine verwöhnte, selbstbezogene Göre aus reichem Hause mit Mittelpunkt-Neurose, die eifersüchtig wird, wenn sich nicht alles um sie dreht. Sie denkt nur an ihr Vergnügen, an Tanz, Theater und Kino, und selbst während des Krieges geht sie lieber tanzen und vernachlässigt ihre Tochter. Ihre Motive für ihre Handlungen bleiben oft unklar, ihr Festhalten an Traditionen, obwohl sie so modern sein will, ist unlogisch und steht im Widerspruch zu ihren Äußerungen. Ebenso finde ich ihren Sexhunger und ihre dauernde sexuelle Erregung unglaubwürdig. Warum sie die Ehe mit Gero eingeht, ist mir schleierhaft und lässt sich eigentlich nur mit ihrem Wunsch nach Sicherheit und heile Welt erklären, die sie sucht, beziehungsweise mit dem Wunsch nach dem Erhalt ihres hohen Status'. Gero bietet ihr eine gute gesellschaftliche Stellung und finanzielle Absicherung, ansonsten behandelt er sie phasenweise wie Dreck und betrügt sie aufs Übelste. Die Suche nach ihm begründet sie immer damit, es ihm schuldig zu sein. Nicht einmal Constanze und Robert verstehen dies so richtig. Zwei Drittel des Buches ging sie mir immer mehr auf die Nerven, und ich habe auch noch nie erlebt, dass sich soviel um den Hals gefallen und umarmt wurde, dass man „dankbar“ war oder sich anschmiegen musste. Gegen Ende wird sie dann ihrer Rolle als moderne junge Frau, die den Umbruch für sich nutzt, etwas mehr gerecht. Mit Hilfe ihrer Großmutter Meta wird sie Autorin und veröffentlicht sogar unter eigenem Namen. Dies war keinesfalls selbstverständlich, und Selma macht sicherlich in gewisser Hinsicht eine Wandlung durch, indem sie zur selbstbewussten, finanziell und gesellschaftlich nicht mehr vom Mann abhängigen Frau wird.

Den anderen Figuren stand ich ebenfalls zwiegespalten gegenüber, Selmas Familie bleibt blass, die Eltern verkörpern die „alte Zeit“, besonders ihre Mutter Hedda. Ihr Bruder ist ein Fliegerass und kehrt schwer verwundet zurück, findet jedoch trotzdem seinen Weg, anscheinend ohne größeres Trauma. Großmutter Meta ist ein bisschen zu gewollt modern und aufgeschlossen und wirkt mitunter unglaubwürdig, ist aber nichtsdestotrotz sympathisch. Was alle an Robert finden, war mir bis zum Schluss ebenfalls schleierhaft. Ein Geck, der genau weiß, dass er gut aussieht und dabei charakterlich farblos und unausgereift bleibt. Überhaupt hätte man meines Erachtens die Charaktere der einzelnen Protagonisten deutlich mehr herausarbeiten und viel vielschichtiger anlegen können.

Die einzige, über die ich wirklich gerne mehr erfahren hätte, ist Constanze. Als erste Frau macht sie ein Ingenieursstudium und schließt es mit Auszeichnung ab. Sie übernimmt die Firma ihres Vater, welche er ihr wunderbarerweise überschreibt, und modernisiert sie mit neuen Erfindungen. Sie ist die einzige, die von Anfang an „modern“ ist und wie keine andere für die neue Zeitrechnung steht. Trotz ihrer Jugend weiß sie von Anfang an was sie will und zieht es durch, und selbst ihre Zuneigung zu Robert kann nichts an ihren Plänen ändern. Für Selma ist sie immer da, obwohl diese sie abfällig Küken nennt und ihr ihren mangelnden Stil mehr als einmal unter die Nase reibt. Selma auf der anderen Seite ist jedoch oftmals eifersüchtig und fühlt sich neben der klugen Constanze minderwertig. Constanze hingegen ist nicht nur klug, sie ist einfach ein guter Mensch und steht für ihre Sache ein.

Der Schreibstil des Romans ist recht gewöhnungsbedürftig und liest sich nicht so flüssig wie erwartet. Die Autorin verwendet eine altmodisch anmutende Erzählweise und verwendet ebensolche Begriffe. Ein Gesicht ist hier ein Antlitz, man sagt Liebster (oder ganz innovativ Darling) und Kino ist Kintopp. Mitunter geraten ihre Beschreibungen, vor allem die der Mode, etwas sehr langatmig und zur besseren Vorstellung tragen sie auch nicht bei. Die altmodische Sprache und sittenstrenge Zeit stehen zudem in krassem Gegensatz zu den detailliert beschriebenen Sexszenen, die meiner Meinung nach etwas weniger weitschweifig hätten ausfallen können und oftmals unnötig sind. Einige Begriffe werden zwar im Anhang erklärt, das stört aber wiederum den Lesefluss. Der Weltkrieg spielt im ersten Teil gar keine Rolle, die Politik bleibt nebensächlich. Natürlich sind die Figuren und besonders Selma vom Krieg betroffen, kommen aber recht unbeschadet aus ihm hervor. Er bedeutet für sie alle letztendlich vor allem einen Neuanfang, und nach seinem Ende nimmt man seine Gewohnheiten mehr oder minder normal wieder auf.

Fazit: Interessanter historischer Hintergrund, tolle Kulisse und an sich ein schöner Gesellschaftsroman, der meines Erachtens aber einiges an Spannung verliert, da die Hauptfiguren einem fremd bleiben. Es fiel mir zunehmend schwer am Ball zu bleiben, und auch der Schluss war letztlich zu blumig-heiter, obwohl ich Happy Ends liebe. Dass Heidi Rehn schreiben kann, ist unbenommen, ich fand den Stil und die Aufarbeitung des Themas leider zu langatmig, um mich wirklich zu fesseln.